"Gorillas": "Wilder" Streik geht weiter

Als wären wir Hunde

Der „wilde“ Streik bei „Gorillas“ in Berlin Mitte Juni (siehe UZ vom 18. und 25. Juni) schlug Wellen. So große, dass das „Gorillas Workers Collective“ (GWC), in dem sich Beschäftigte des Lieferdienstes organisieren, Probleme hatte, Interviewanfragen nachzukommen. Jetzt berichtet Hüseyin Camalan im Gespräch mit UZ von den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen bei dem Lieferdienst, untragbaren Zuständen in einer Firma, die rücksichtslos auf Expansionskurs ist, und den Problemen, die marginalisierte Belegschaft zu organisieren. Camalan arbeitete von Dezember 2020 bis Mai 2021 als Rider bei „Gorillas“ und engagiert sich im GWC.

UZ: Du hast knapp sechs Monate als Rider bei „Gorillas“ in Berlin gearbeitet. Schilderst du uns die Arbeitsbedingungen dort?

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Hüseyin Camalan (Foto: Privat)

Hüseyin Camalan: Vergleicht man die Arbeit bei „Gorillas“ mit der bei anderen Lieferdiensten, könnte man sagen, dass die Bedingungen dort schon etwas besser sind. Alles in allem sind sie aber inakzeptabel. Nicht immer wird pünktlich gezahlt, und fair ist die Bezahlung auch nicht. Die Firma kann dich jederzeit kündigen, ohne Vorwarnung. Das ist einer der Gründe, weshalb wir in den Streik getreten sind.

UZ: Beschäftigte von Lieferdiensten müssen ihre Ausrüstung oft selbst mitbringen. Ist das bei „Gorillas“ auch der Fall?

Hüseyin Camalan: Ja, und das ist gesetzeswidrig. In meinem Arbeitsvertrag mit „Gorillas“, den ich im Dezember unterschrieben hatte, heißt es, „Gorillas“ würde mir die gesamte Ausrüstung zur Verfügung stellen, die ich benötige, um den Job zu machen. Dafür braucht man Smartphone, Fahrradhelm, Handschuhe, Regenkleidung, eine warme Jacke für den Winter, Handyhalterung und ein Fahrrad.
Fangen wir mit dem Helm an: Als die Firma mir den Vertrag zuschickte, sagte man mir, ich müsse einen eigenen Helm kaufen, sie hätten nicht genug. Also habe ich mir einen Helm gekauft und Handschuhe dazu, weil ich mir dachte, wenn sie mir schon keinen Helm geben, werden sie mir auch keine Handschuhe geben. Dabei hatte ich eigentlich gar kein Geld für so was. Tatsächlich lagen dann aber Helme im Warenlager. Das hat mich wirklich geärgert.

Während der ersten Wintermonate bekamen wir weder Regenkleidung noch warme Jacken. Wir fuhren teils völlig durchnässt durch die Stadt. Schließlich kaufte „Gorillas“ Regenjacken. Die wurden uns aber nicht persönlich zugeteilt. Sie liegen in einer großen Kiste im Warenlager, werden nicht gewaschen, nicht repariert. Sie stinken mittlerweile erbärmlich. Wenn es regnet und Kollegen sie anziehen, tun die mir leid. Auch die Handschuhe sind nicht sauber und werden nicht desinfiziert. „Gorillas“ hat 300 Millionen Euro zur Verfügung. Die könnten sich wirklich leisten, Ausrüstung persönlich zuzuteilen!

Noch schlimmer ist die Situation mit den Smartphones. „Gorillas“ verteilt keine, obwohl im Vertrag steht, dass du alle Ausrüstung bekommst, die für den Job benötigt wird. Bringst du kein Handy mit, darfst du nicht arbeiten. Das ist illegal. Nicht einmal Versprechen, unsere privaten Handys zu versichern, werden eingehalten. Wenn mir mein Handy während der Arbeit herunterfällt – das passiert jedem mal –, wird mir die Reparatur nicht bezahlt. Zudem müssen wir mitunter ausländische Handynummern anrufen. Die Kosten dafür tragen wir selbst!

UZ: Die Kunden erhalten die privaten Handynummern der Rider, richtig?

Hüseyin Camalan: Das stimmt. In vielen Fällen haben mich Kunden mit meinem Vornamen angeredet. Ich war sehr überrascht, dass die den kannten. Mit der Nummer können Kunden dich auf „WhatsApp“ oder „Telegram“ finden und dein Profilfoto anschauen. Das ist problematisch. Manche Rider werden missbräuchlich privat kontaktiert. Auch wir können private Daten der Kunden einsehen.

UZ: Bekommen Rider wenigstens ein Rad gestellt?

Hüseyin Camalan: Das schon, aber auch die werden nicht persönlich zugeteilt. Ich habe ein Rider-Ops-Training („Rider Operation Associates“: Schichtleiter; Anmerkung d. Red.) mitgemacht. Die Trainer dort haben uns ausdrücklich instruiert, die Fahrräder nicht ergonomisch einzustellen, weil die Räder schneller kaputt gehen, wenn täglich an ihnen geschraubt wird. Nur die Sattelhöhe darf verstellt werden, aber damit ist es ja nicht getan.

Manch einer würde den großen, unförmigen Rucksack, mit dem wir ausliefern, lieber im Korb auf dem Gepäckträger statt auf dem Rücken transportieren. Die Körbe wurden alle entfernt. Viele Kolleginnen und Kollegen haben Rückenprobleme.

Die Firma ist klar auf Expansion ausgerichtet. Alles andere fällt unter den Tisch. Deshalb bekommen wir keine Handys. Deshalb bekommen wir keine Winterjacken. Die wollen einfach nur neue Warenlager eröffnen, den Marktanteil immer weiter erhöhen und dann wahrscheinlich teuer verkaufen. Wir zählen nicht.

UZ: Wie schwer ist denn so ein Lieferrucksack?

Hüseyin Camalan: Das kann ich nicht genau sagen. Ich selbst komme mit den Gewichten zurecht, viele Kolleginnen und Kollegen allerdings nicht. Die schwerste Bestellung, die ich ausgeliefert habe, muss 30 bis 40 kg gewogen haben. Manche Warenlager achten darauf, dass die Rider nicht zu viel Gewicht schultern müssen, andere kümmern sich darum nicht. Du bist der Gnade des Schichtleiters ausgeliefert. Vor allem zur Rush Hour, wenn es keine freien Rider mehr gibt. Wenn eine schwere Bestellung reinkommt, muss die jemand ausliefern, richtig? In diesen Momenten vergessen die Leute gerne, dass man vielleicht gar nicht in der Lage ist, so viel Gewicht zu schultern.

UZ: Vor einigen Wochen gab es eine Betriebsversammlung bei „Gorillas“ in Berlin mit dem Ziel, einen Betriebsrat zu gründen.

Hüseyin Camalan: Bei diesem Treffen gab es ein Vertrauensvotum, und wir haben einen Wahlvorstand gewählt. Wie weit der Wahlvorstand mit der Vorbereitung der Betriebsratswahl gekommen ist, weiß ich nicht. Die Proteste der letzten Wochen haben einiges an Zeit gekostet. Ich hoffe, dass der Betriebsrat in zwei bis drei Monaten gewählt wird.

UZ: Es hieß, das Management von „Gorillas“ habe versucht, den Prozess zu torpedieren.

Hüseyin Camalan: Eigentlich hätte die Betriebsversammlung schon viel früher stattfinden sollen. „Gorillas“ hat mit mehreren Tricks versucht, die Durchführung der Versammlung zu verzögern. Schließlich hätte die Firma dem GWC eine Liste der Mitarbeiter mit deren Jobbezeichnungen zukommen lassen müssen. Die kam erst in der Nacht vor der Betriebsversammlung. Mithilfe dieser Liste hätte das GWC entscheiden sollen, wer als leitender Angestellter von der Teilnahme an der Betriebsversammlung auszuschließen ist. Die Kollegen haben versucht, online zu recherchieren, wer welche Funktion hat. Das pure Chaos! Nicht jeder, der „Manager“ in seinem Titel stehen hat, ist tatsächlich leitender Angestellter.

Schließlich mussten die Kollegen konservativ entscheiden, wer teilnehmen durfte und wer nicht. Leider mussten einige draußen bleiben. Ein offensichtlicher Versuch der Geschäftsführung, die Betriebsratsgründung zu sabotieren. Als ich zum Versammlungsort gekommen bin, haben dort Leute versucht, in die Versammlung zu kommen, von denen ich genau wusste, dass sie leitende Angestellte waren. Das hat mich wütend gemacht. Ich war vorher schon motiviert, mich zu engagieren. Danach habe ich mir gesagt, jetzt erst recht! Zudem war schon klar, dass ich die Firma verlassen würde. Vor einer Kündigung hatte ich also keine Angst.

UZ: Habt ihr für die Betriebsratsgründung gewerkschaftliche Unterstützung bekommen?

Hüseyin Camalan: Die NGG unterstützt uns. Von der FAU bekommen wir viel Unterstützung in Form von rechtlicher Beratung, finanzieller Mittel und Logistik.

UZ: Wie ist es denn zu eurem „wilden“ Streik gekommen?

Hüseyin Camalan: Es gab schon viel Unzufriedenheit unter den Beschäftigten. Ich glaube, Santiagos Kündigung hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Er wurde ohne Begründung gefeuert, mündlich. Ich bekam eine Nachricht auf mein Handy: Wir streiken, wir blockieren ein Warenlager, damit dürfen die nicht durchkommen. Ich habe mich einfach beteiligt. Ich wusste nicht, dass wilde Streiks in Deutschland vermeintlich illegal sind. Die meisten meiner Kollegen wussten das vermutlich auch nicht. Die meisten sind Migranten und sprechen kein Deutsch, wie sollen sie deutsche Arbeitsgesetze verstehen?

In Deutschland wird ja heiß diskutiert, ob wilde Streiks legal sind oder nicht. Meiner Meinung nach erlaubt die Europäische Sozialcharta solche Streiks. Selbst wenn die nicht legal sein sollten – wenn man nicht streiken darf, wann man will, läuft etwas deutlich schief!

Wenn uns jemand verklagt, helfen wir vielleicht, einen Präzedenzfall eines hohen Gerichts zu schaffen. Das wäre doch wunderbar! Überall in der Gig Economy werden Beschäftigte missbraucht. Wenn wir genügend Solidarität und Unterstützung bekommen, haben wir eine Chance.

Was wir am meisten brauchen, sind Kolleginnen und Kollegen, die uns unterstützen. Die Firma expandiert so schnell, die Fluktuation ist so groß, die meisten bleiben nicht sehr lange. Wir brauchen mehr Kollegen, die aufhören zu sagen: Ich bleibe ja nur zwei Monate, die Bedingungen hier sind nicht mein Problem.

UZ: Welche Forderungen habt ihr während eures Streiks erhoben?

Hüseyin Camalan: Eine Forderung ist, dass die Kündigung von Santiago zurückgenommen werden muss. Dann wollen wir, dass die sechsmonatige Probezeit abgeschafft wird. Das ist unnötig lang angesichts der kurzen Beschäftigungsdauer bei „Gorillas“. Dazu erheben wir eine Reihe an Forderungen grundsätzlicher Natur.

Zum Beispiel brauchen wir Ansprechpartner, an die wir Rider uns wenden können, wenn wir krank sind, Urlaub brauchen, einen Unfall hatten, Gehaltsbescheinigungen brauchen, solche Sachen. Über 1.000 Rider arbeiten heute für „Gorillas“ in Deutschland. Es gibt aber nur acht Ansprechpartner, und die arbeiten in Teilzeit. Jeder von denen bekommt hunderte Anfragen pro Tag. Die kopieren Textbausteine in E-Mails. Die beantworten nichts. Die erledigen nichts.

Ein Beispiel aus meinem Leben: Pandemie-bedingt habe ich Hartz IV beantragt. Das „Jobcenter“ wollte meine Gehaltsbescheinigungen haben. Vier Wochen musste ich mit „Riders’ Support“ kämpfen, um die zu bekommen. Als ich die Bescheinigungen endlich hatte, hatte mir das „Jobcenter“ schon eine Sperre auferlegt, weil ich die Dokumente nicht fristgerecht vorlegen konnte. Manch ein Kollege hat noch Schlimmeres durchgemacht deswegen.

Das ist völlig unakzeptabel. Wie kann es sein, dass eine Firma, der 300 Millionen Euro zur Verfügung stehen, die mit einer Milliarde Euro bewertet wird, innerhalb von sechs Monaten nicht mehr als acht Teilzeitkräfte für solche Aufgaben einstellt? Das ist gestört. Die machen das absichtlich so. Die wollen ihre Beschäftigten zur Verzweiflung bringen.

UZ: In Anlehnung an das Firmenmotto ließ das „Gorillas Workers Collective“ verlauten: „We organize in under 10 minutes“.

Hüseyin Camalan: Einen Streik so schnell zu organisieren, ist vermutlich nicht der beste Weg, um die Zustimmung aller Beschäftigten zu bekommen. Andererseits, strategisch betrachtet – wenn wir sagen, wir bestreiken morgen um 20 Uhr ein Warenlager, wird „Gorillas“ einfach Rider zu benachbarten Warenlagern schicken, die dann die bestreikte Gegend mitversorgen. Dann bleibt der Streik folgenlos.

Ich glaube, der PR-Aspekt ist besonders wichtig. Die haben wahrscheinlich viel mehr Geld verloren, als Kunden gelernt haben, welche Arbeitsbedingungen bei Gorillas herrschen, als durch die Umsatzeinbußen der bestreikten Warenlager. Deshalb wirft „Gorillas“ jetzt so mit Rabattcodes um sich. Wer bei Lieferdiensten mit Fahrradkurieren bestellt, muss sich im Klaren sein, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Rechte Beschäftigter mit Füßen getreten werden.

UZ: Wie hat Gorillas denn auf euren Streik reagiert?

Hüseyin Camalan: Mit einer typischen PR-Antwort, völlig nichtssagend. Der CEO, Kagan Sümer, hat in einer Online-Schalte zu uns gesprochen. Eigentlich sollte er Fragen von uns beantworten. Er hat nicht eine Frage angenommen. Stattdessen will er auf eine Radtour zu Standorten in Deutschland gehen. Er weigert sich, mit uns zu sprechen. Wir bekommen vage E-Mails, in der von „Wachstumsschmerzen“ eines Start-Ups die Rede ist. Die nutzen weiterhin jede Gesetzeslücke, um nur das absolute Minimum zu machen, mit dem sie gesetzlich gerade so noch durchkommen.

Kagan erweckt gerne den Eindruck, er kümmere sich nicht um Geld. Das ist leicht, wenn man 200 Millionen Euro schwer ist. Während meiner Zeit bei „Gorillas“ habe ich gelernt, Menschen nach ihren Taten zu bewerten, nicht nach ihren Worten. Alles, was wir hier bekommen, müssen wir uns selbst erkämpfen. Nichts davon wird das Resultat von Mildtätigkeit oder guter Absichten seitens der Firma sein.

UZ: Kagan Sümer verkauft „Gorillas“ gerne als „Bewegung“, wahlweise auch als „Familie“.

Hüseyin Camalan: Wenn „Gorillas“ eine Familie ist, ist es eine sehr disfunktionale. Ich wüsste gerne, wie er aufgewachsen ist – für mich fühlt sich hier nichts nach Familie an. Wir werden mit Mottos wie „Riders first“ bombardiert. Wenn wir auf ihre Taten schauen, ist klar, dass das Humbug ist.

Bei „Gorillas“ herrscht Nepotismus. Befördert wurden inkompetente Mitarbeiter, die früh als Rider anfingen. Die wissen nicht, was sie tun. Das sind Arbeiter, die ihre eigene Klasse verraten.

Selbst die Schichtleiter sind überarbeitet und werden mitunter nicht bezahlt. Ich kenne jemanden, der Schichtleiter war. Der hat sechzig Stunden pro Woche gearbeitet, unbezahlt. Es hieß, er solle sich einfach beim Inventar bedienen, Wein und Kaffee mit nach Hause nehmen. Es gibt mehr solcher Beispiele. „Gorillas“ „zahlt“ gerne mit Essen und Getränken. Als wären wir Tiere! Als wären wir Hunde, denen man ein Leckerli gibt!

Es fängt schon damit an, dass man den Schichtleitern nicht beibringt, mit Krisen umzugehen, wie Fahrradunfällen oder tatsächlichen Problemen während des Betriebs. Die bekommen beigebracht, Rider zu missbrauchen und sicherzustellen, dass Rider schlicht funktionieren.

UZ: Wirbt „Gorillas“ bewusst Migranten an, die ihre Rechte nicht kennen?

Hüseyin Camalan: Ich weiß nicht, ob die das bewusst machen. Klar ist, dass vor allem verzweifelte Migranten ohne Geld und mit kurzen Visumslaufzeiten bei „Gorillas“ anheuern. Menschen, die anders nicht über die Runden kommen und keinen Anspruch auf Hartz IV haben. Menschen, die sich nicht juristisch wehren können, wenn sie missbraucht werden, weil sie kein Geld für einen Anwalt haben.



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