Besser hätte es für Katherina Reiche kaum anfangen können: Am 12. Juni erhöhten gleich vier deutsche Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Erwartungen für 2026: Die bundesdeutsche Wirtschaft werde ihre längste Krise seit 1949 im kommenden Jahr voraussichtlich überwinden. Das Münchner Ifo-Institut sah das Bruttoinlandsprodukt nach dreijähriger Stagnation 2026 um 1,5 Prozent wachsen – fast doppelt so viel wie es selbst kürzlich noch angenommen hatte.
Reiche kann sich also zurücklehnen? Wir steigern das Bruttosozialprodukt – aber ohne in die Hände zu spucken? Das Wunder bewirken die Kanzlerschaft von Friedrich Merz und die Milliarden oder Billionen Euro für Waffen, die sie mit sich bringt? Reiche hielt sich mit den Prophezeiungen nicht lange auf, sondern nannte Bedingungen: Ohne Renten zu kürzen und länger zu arbeiten wird das nichts. Sie erklärte am selben Tag in Berlin nach einem Treffen mit dem Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), Mathias Cormann: „Das Thema Belastung durch Sozialabgaben ist ein Thema.“ Deutschland sei hier weit über dem OECD-Durchschnitt. Wichtig sei unter anderem, länger und flexibler zu arbeiten. Es seien grundlegende Reformen bei der Rente und angesichts der steigenden Ausgaben im Gesundheitssystem notwendig. Das Rentenalter werde zwar langsam erhöht – bis 2031 auf 67 Jahre –, aber: „Die Frage ist: Sind wir da schnell genug? Ich würde sagen: Nein.“ Und legte nach: „Auch das Thema Frühverrentung ist ein Problem.“ Die Koalition müsse sich damit beschäftigen. Und weiter: „Mir scheint wichtig, dass es Konsens sein sollte in der Regierung, dass die Belastung des Faktors Arbeit mit hohen Sozialabgaben hemmend wirkt und wir auch hier wettbewerbsfähiger sein müssen.“ Deutschland müsse seine Hausaufgaben machen und habe es mit Strukturreformen selbst in der Hand, das Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren deutlich zu steigern.
So weit, so erwartbar. Den Koryphäen von Wirtschaftspolitik im Auftrag des Kapitals fällt in Krise und Krieg nie etwas anderes ein. Reiche hat allerdings mit der SPD einen Regierungspartner, dem die letzten politischen Felle davonschwimmen, wenn nicht einmal mehr das im Koalitionsvertrag Verabredete zu Arbeit und Renten gilt. Das ist schon brutal genug, genügt Reiche aber nicht.

Am Montag zitierte daher das „Handelsblatt“ unter der Überschrift: „Reiches Rentenvorstoß sorgt für Streit in Berlin“ SPD-Fraktionsvizin Dagmar Schmidt: „Die Logik, dass erst alle mehr und ungeregelter arbeiten und dann auch noch später in Rente gehen sollen, verkennt die Realität in der Arbeitswelt.“ Alle müssten sich nach jahrzehntelanger Arbeit auf die gesetzliche Rente verlassen können. Schmidt kündigte an: „Einseitige Klientelpolitik der großen Überschriften zulasten von Arbeitnehmern werden wir nicht mitmachen.“
Reiche hat kein Problem mit sozialdemokratischem Gestikulieren. Am Montag besuchte sie zum Beispiel in Luxemburg ein Treffen der sogenannten europäischen Nuklearallianz – eines Zusammenschlusses von EU-Ländern, die sich für eine stärkere Nutzung der Atomenergie einsetzen. Mitglieder sind unter anderem Frankreich, Schweden und Polen. Im Anschluss erklärte Reiche: „Ich habe zugehört und bin in Kontakt getreten.“ Es war wohl mehr. Die schwedische Energieministerin Ebba Busch meinte jedenfalls, Deutschland vollziehe ein Comeback in Sachen Technologieneutralität. Das hatte Reiche selbst bereits Ende Mai verkündet, was damals Umweltminister Carsten Schneider (SPD) zu der Erklärung veranlasste, Deutschland lehne die Einstufung von Atomkraft als nachhaltig weiterhin ab: „Eine Positionierung der Bundesregierung gibt es nicht und wird es mit der SPD auch künftig nicht geben.“ Na und? Reiche hat das Kommando „Volle Fahrt zurück“ gegeben.