Ein Buch zu aktuellen Protestbewegungen – alles nur pathologisch?

Immer schön im System bleiben

Carolin Amlinger, Literatursoziologin, und Oliver Nachtwey, Professor für Strukturanalyse/Soziologie, beide sind an der Universität Basel, haben mit „Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus“ ein Buch geschrieben, in dem sie die Proteste gegen die Pandemie-Maßnahmen zu erklären versuchen.

Oliver Nachtwey begleitet seit geraumer Zeit die „Aus­einandersetzungen der Gegenwart“ mit einer Forschungsgruppe. Bekannt wurde er breiteren Kreisen durch seine Online-Umfrage 2020, mit der das Spektrum von „Querdenkern“ erfasst werden sollte, speziell das der „Coronarebellen“ in der Schweiz und Deutschland. Diese Befragung und auch die weiter erhobenen Daten (zum Beispiel Interviews) sind aufgrund methodischer Unzulänglichkeiten (quantitativ und qualitativ begrenzter Datenpool) nicht grundlegend aussagefähig. Trotz dieser Einschränkungen geben die Forschungen interessante Hinweise auf Denkweisen innerhalb der Bewegungen. Insbesondere die Identifizierung der Ich-Bezogenheit als entscheidende Triebfeder ist nachvollziehbar. Wichtig sind die Hinweise auf bereits vorher erfolgte Erfahrungen mit tiefgreifenden Auswirkungen auf den Einzelnen: Die Anschläge 2001 in den USA und „Gefahr der Islamisierung“; Agenda 2010; Syrienkrieg und hier vor allem die „Flüchtlingswelle“; die Corona-Maßnahmen oft als entscheidender Triggerpunkt. Das Misstrauen gegenüber allem Offiziellen – Staat, Politiker, Wissenschaftler – ist groß. Häufig findet sich die eigene Einordnung als „ideologiefrei“ und gestützt auf (alternative) Fakten.

Die Autoren übernehmen unhinterfragt Sprachmuster und Begriffe von Politik und Medien: Querdenker, Verschwörungstheorien, Corona-Leugner, Konspirationisten, Wissenschaftsfeindlichkeit. Die Grundhaltung, die man glaubt identifizieren zu können, wird als „libertärer Autoritarismus“ bezeichnet. „In diesem Sinne betrachten wir den libertären Autoritarismus nicht als irrationale Bewegung gegen, sondern als Nebenfolge spätmoderner Gesellschaften“. Dieser gesellschaftliche Bezug wird jedoch nicht umgesetzt, Elemente des Protestes werden nicht auf Sinn oder Unsinn untersucht. Ursachen und Wirkungen des Protests werden im Individuum verortet und zum Ausdruck individueller Psychopathologien. Es werden Grundtypen der „Querdenker:innen“ beschrieben: Der „Rowdy, auch Rebell genannt“, der „Spinner“, der dem Verschwörungstheoretiker entspricht, „autoritäre Innovatoren“ und „regressive Rebellen“.

In dieser Herangehensweise sind die Autoren der „Kritischen Theorie“ verbunden, deren Altvorderer Jürgen Habermas in den Corona-Leugnern einen „Extremismus der Mitte“ zu erkennen glaubt. In dem Sozialphänomen des „libertären Autoritarismus“ sehen Amlinger und Nachtwey eine Aktualisierung des „autoritären Charakters“ der Kritischen Theorie, bei der der behauptete Bezug zu Marx nur noch mit ein paar Zitaten und Lippenbekenntnissen zur „Klassengesellschaft“ zu überleben versucht. Die Autoren wollen ein allgemeines Muster sozialer Phänomene der „Spätmoderne“ (bereits diese Epocheneinteilung ist nicht nachvollziehbar) herausarbeiten, bleiben aber mit den Untersuchungen im Milieu der „Querdenker:innen“ verhaftet, wobei auch hierfür die pauschalen Wertungen zu hinterfragen sind. Beim Kapitel 7, in dem Aussagen von Interviewten wiedergegeben werden, lässt einen dann schon der Titel stutzen: „Wiederverzauberung der Welt: Coronaproteste“. Aussagen aus den nur 45 Interviews werden verallgemeinert zu einer Gesamtwertung von aktuellen Protestbewegungen – nicht nur der Corona-Proteste – als „Entfremdung von der Rationalität hochdifferenzierter Gesellschaften“.

Die Suche der Kritischen Theorie nach den im Individuum angelegten Strukturen und Anfälligkeiten für autoritäres Verhalten (Aggression und Unterwerfung) verlagert die Ursachen für die Unzulänglichkeiten, Spinnereien, Irrationalitäten und was man sonst noch finden kann in das Individuum; Protest wird pathologisch. Es muss jedoch dieses gesellschaftliche System als Ausgangspunkt genommen werden, wenn ich den subjektiven Faktor, die individuellen Antworten des Subjekts auf die Maßnahmen eines Staates beurteilen will, die den politischen, ökonomischen, sozialen, geistigen Bedürfnissen der Menschen nicht entsprechen.

Misstrauisch darf man werden, wenn die Autoren im Zusammenhang mit ihrem Menschenbild einen gesonderten Exkurs zu „Sloterdijks Meditationen“ anbringen, an dem die Autoren toll finden, dass er „im Gestus der Übertreibung Unsagbares sagbar“ macht und er „zum Repräsentanten einer Gegen-Epistemologie (wird), die ins Extreme kippen kann – aber dort nicht verharren muss“. Ein eigenes Kapitel für diesen philosophischen Rechtsaußen mit Herrenmenschenarroganz scheint nur nachvollziehbar in intellektueller Abgehobenheit, weil die Autoren in ihm einen wichtigen „Vorläufer für einen intellektuellen Diskurs, der unscharfe Interferenzen zwischen ideologischen Lagern ausbildet“ sehen.

Bei der Kritik an „diversen linken Kräften“ wird konstatiert, was nicht zu übersehen ist: „Die traditionelle Linke ist für diejenigen, die ein Unvernehmen (sic!) gegenüber Herrschaft und Staat verspüren, kaum noch eine Anlaufstelle“. Unklar bleibt, was als „links“ gesehen wird. Die kraftlos gewordenen Gewerkschaften finden sich in einem Topf mit den „veganen Lifestyle-Communities von Hochqualifizierten, die nicht länger in WGs leben, sondern in ihren Altbauwohnungen auf Vintage-Möbeln die nächste Start-up-Idee austüfteln“. Das steigert sich bis zu ausgemachtem Blödsinn: „Die antikapitalistische Säure kippte zur lebensweltlichen Base der Selbstverwirklichung.“ Beschreibungen gewisser Erscheinungen von sich als links Verstehenden mag man ja noch schmunzelnd genießen: „Statt der utopischen Erprobung alternativer Lebensstile dominierte nun ein avantgardistisch aufgeladener Individualismus.“ Es hätte dem Buch nicht geschadet, wenn man auf solche Plattitüden verzichtet hätte. Wohingegen es lohnend wäre zu untersuchen, welche Bedeutung der Individualismus, der Verlust der Kollektivität, das Einfordern von Solidarität für staatliche Maßnahmen im Herrschaftsgefüge spielt.

Das System wird nicht in Frage gestellt, sondern das Individuum kriegt es halt nicht in den Griff: „Es gibt keinen Transmissionsriemen, über den sich Ohnmachtsgefühle in rationale Herrschaftskritik übersetzen ließen. Vor den Komplexitätszumutungen der spätmodernen Welt kapitulieren die libertären Autoritären“ heißt es im Schlusskapitel. Vorausblickend stellen die Autoren dann auch die Frage: „Aber was passiert, wenn wir nicht mehr zur Normalität zurückkehren?“ – was sie für durchaus wahrscheinlich halten. Was ist denn die Normalität? – fragt man sich – und erhält als Dreingabe ein Orakel: „Wir halten es für denkbar, dass sich in kommenden Krisen weitere verquere Fronten bilden, die sich über schiefgestellte Herrschaftskritik verbinden.“ Wieder ersetzen Wortungetüme notwendige Präzision.

Ich hatte große Erwartungen an dieses Buch, weil es – wie bei vielen anderen, die es positiv bewerten – das Bedürfnis nach Erklärungen für insbesondere die Bewegung der „Corona-Leugner“ zu befriedigen versprach. Den subjektiven Faktor ernst zu nehmen bedeutet aber gerade nicht, sich in seelische Defekte von Individuen einzugraben, sondern das Erkennen verqueren Denkens erfordert Erkennen der verqueren, das heißt den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen unangemessenen Verhältnisse. Die Autoren hingegen bleiben immer schön im System.


Carolin Amlinger / Oliver Nachtwey
Gekränkte Freiheit
Aspekte des libertären Autoritarismus
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 480 Seiten, 28 Euro


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"Immer schön im System bleiben", UZ vom 9. Juni 2023



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