Im Windschatten der geplanten Stationierung von US-Raketen träumen Think-Tanks und Rüstungsindustrie von der Atommacht BRD

Von „Dark Eagle“ zur deutschen Bombe

Deutschland im Frühsommer 2025: Raketen, Marschflugkörper und der anschwellende Ruf nach Atombewaffnung. Am 10. Juli vergangenen Jahres unterzeichneten Regierungsvertreter der USA und Deutschlands auf der NATO-Tagung in Washington eine bilaterale Erklärung „zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland“. Laut Plan sollen, „beginnend 2026“, die Waffensysteme SM-6, Tomahawk und Hyperschallraketen des Typs „Dark Eagle“ im Bereich Wiesbaden und/oder Grafenwöhr stationiert werden. Die Raketen des Typs SM-6 erreichen russische Ziele bis etwa 150 Kilometer vor Moskau, die Tomahawk-Marschflugkörper unterfliegen in einer Höhe zwischen 30 und 90 Metern die Batterien der gegnerischen Flugabwehr und tragen ihre tödliche Last bis hinter Moskau. Die „Dark Eagle“-Hyperschallwaffe erreicht mit vielfacher Schallgeschwindigkeit russische Ziele in wenigen Minuten bis hinter den Ural. Von einer „Frühwarnzeit“ lässt sich angesichts dieser Zeitspanne aus Sicht des Angegriffenen nicht mehr sprechen.

Die seit Antritt der Trump-Regierung von der bürgerlichen Presse hochgefahrene Berichterstattung über die Verlässlichkeit der transatlantischen Fundamente hangelt sich entlang an einem Wechselbad der Gefühle. Mal sieht Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) die Grundfesten der NATO erschüttert, mal feiert er den Umstand als „Erfolgsdiplomatie“, dass er im Oval-Office zwei Minuten Ehrerbietung zeigen durfte, ohne harsch unterbrochen worden zu sein. Von den angesichts des Zeitplans zu erwartenden Aktivitäten zur Raketenstationierung hört die Öffentlichkeit schon lange nichts mehr.

Mit ELSA gen Osten

Dafür dringen Alternativüberlegungen ans Tageslicht, die belegen, dass sich die NATO-Europäer nicht sicher sind, wie es um die US-Raketen in Deutschland schlussendlich bestellt sein wird: Mit den Briten verhandelt die Bundesluftwaffe zurzeit über die Entwicklung und die Produktion einer Rakete, die „tiefe Präzisionsschläge“ in einer Reichweite von 2.000 Kilometern ermöglichen und Hyperschallfähigkeiten aufweisen soll. Die technische Realisierbarkeit steht allerdings in den Sternen. Man rechnet mit einer Produktbereitschaft erst in etwa zehn Jahren. Der deutsche Rüstungsgigant Rheinmetall verhandelt laut der Plattform „Defence Industry Europe“ aktuell mit Lockheed-Martin über ein Joint-Venture zu einer „groß angelegten Raketenproduktion in Europa“. Den Bedarf schätzt Rheinmetall auf jährlich (!) 13.800 Raketen mittlerer Reichweite, die Produktionsstandorte sollen in Deutschland liegen. Der Beginn der Herstellung ist für Anfang 2027 geplant.

Auf der Anfang Mai in Berlin ausgerichteten Konferenz „HyperCon 2025“ sprach General Christian Badia (NATO-Rang: „Deputy Supreme Allied Commander Transformation“) vom sich schließenden Zeitfenster. Die „Deep Precision Strike“-Fähigkeiten seien unabhängig von den USA auszubauen. „Wir haben keine Zeit mehr“, und geraten außerdem ins Hintertreffen gegenüber Russland und China. Es gehe darum, auch von Europa aus die „Tiefe des Raumes“ zu beherrschen.

Koordiniert werden die europäischen Raketenpläne über die gemeinsame Plattform „ELSA“ (European Long-Range Strike Approach). Hier laufen im Bereich der Raketen- und Marschflugkörper-Produktion momentan 13 sogenannte „Development Pillars“, sprich: Einzelprojekte. Auf dem in dieser Woche nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ stattfindenden NATO-Gipfel in Den Haag sollte eine weitere Koordination der ELSA-Aktivitäten erfolgen. Dort wird auch eine klärende Stellungnahme der US-amerikanischen Delegation zum Bestand der vor einem Jahr vereinbarten Raketenstationierung in Deutschland erwartet.

Eine Analyse der einschlägigen Plattformen auf NATO-Ebene ergibt keinerlei Hinweise, dass auf Seiten des US-Militärs vom Plan der Stationierung abgerückt worden wäre. Auf „armyrecognition.com“ wird aktuell über die laufende Fertigstellung der mobilen Abschussvorrichtungen für „Dark Eagle“ und absolvierte Tests unter Einsatzbedingungen berichtet. Der Weg für den „Feldeinsatz“ sei seit Ende letzten Jahres frei, die Dark Eagle werde in „ausreichender Zahl“ an die Armee ausgeliefert. Noch in diesem Jahr – so „armyrecognition.com“ – werde Russland und China mit „Dark Eagle“ ein „gewaltiger Konkurrent“ gegenüberstehen, der es dem US-Militär technisch ermögliche, „das Schlachtfeld der Zukunft“ zu beherrschen.

Die in den europäischen NATO-Staaten grassierende Debatte um den schnellstmöglichen Ausbau weitreichender Raketenbatterien hat auch längst totgeglaubte Nuklearfantasien des militärisch-industriellen Komplexes neu befeuert. Das Streben nach Wiederbewaffnung ohne „Wenn und Aber“, also auch unter Einschluss der Verfügung über Atomwaffen, gehörte schon immer zur DNA des deutschen Revanchismus.

„Weiterentwicklung der Artillerie“

Zwölf Jahre nach Kriegsende formulierte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) am 4. April 1957 gegenüber der Bonner Presse: „Unterscheiden Sie doch die taktischen und die großen atomaren Waffen. Die taktischen Waffen sind nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie. Natürlich können wir darauf nicht verzichten“. Laut Kabinettsprotokoll vom 19. Dezember 1956 vertrat Adenauer die Auffassung, „es sei daher dringend erforderlich, dass die Bundesrepublik selbst taktische Atomwaffen besitze“. Schließlich dürften nicht nur USA und So­wjet­union „das Schicksal aller Völker dieser Erde in der Hand haben“. Der Widerstand der Briten und Franzosen mündete Ende März 1958 in einen Kompromiss: Der Bundestag beschloss, die Bundeswehr erst einmal mit Trägersystemen für Nuklearsprengköpfe auszustatten. Es war die Geburtsstunde der nuklearen Teilhabe, mit US-Atombomben, die von deutschen Piloten ins Ziel gesteuert werden.

Noch im Juli 1959 schlug der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower im Nationalen Sicherheitsrat der USA vor, man können den Westdeutschen die Baupläne zur Atombombe überlassen, damit sie „selbst nukleare Fähigkeiten für sich entwickeln“ können. Daraus wurde nichts. Der 1960 ins Amt gekommene John F. Kennedy schrieb Adenauer anlässlich eines Staatsbesuchs ins Stammbuch, es sei Schluss mit den „nuklearen Experimenten“. Über 60 Jahre später, im Februar 2024, bestätigte die Reaktion deutscher Regierungsstellen auf einen Nebensatz in einer Wahlkampfrede des US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, nämlich den NATO-Partnern im Kriegsfall gegebenenfalls nicht mehr beizustehen, abermals die kurze Leine zwischen dem Verhalten der (zukünftigen) US-Regierung und der deutschen Position zur Atombewaffnung. Erinnert sei an die Antwort der damaligen Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katarina Barley (SPD), auf die Frage, ob die EU nun eigene Atombomben brauche: „Auf dem Weg zu einer europäischen Armee kann also auch das ein Thema werden.“

Frankreichs „Schutzschirm“

Die reaktionären Kräfte (vor allem in der CDU), die schon lange eine Anbindung der Bundesrepublik an den „nuklearen Schutzschirm“ Frankreichs fordern, wie exemplarisch der damalige Unions-Fraktionsvize und jetzige Außenminister Johann Wadephul, schnupperten Morgenluft: „Wir müssen eine Zusammenarbeit mit Frankreich bei den Nuklearwaffen ins Auge fassen.“ Die Zusammenarbeit stößt jedoch auf Hindernisse. Frankreich verfügt mit seiner „Force de frappe“ über knapp 290 Atomsprengköpfe, die von Atom-U-Booten oder von Rafale-Kampfjets aus abgefeuert werden können. Anders als die 225 britischen Nuklearwaffen sind sie nicht in die NATO-Kommandostruktur eingestellt. Der Einsatzbefehl liegt direkt beim Staatspräsidenten. Und der sieht keinen Raum für eine Mitsprache der von Merz jüngst ausgerufenen „konventionell stärksten Armee Europas“. „Was auch immer geschieht, die Entscheidung lag und liegt immer in den Händen des Präsidenten der Republik“, so Emmanuel Macron Anfang März dieses Jahres.

Zusätzlich spricht der momentan noch hinter den Kulissen zwischen den europäischen NATO-Staaten (Frankreich, Polen, Großbritannien, Deutschland) ausgetragene Kampf um die Führungsrolle in Europa angesichts des schwindenden US-Engagements für einen bruchlosen Übergang in eine neue Konstellation deutscher atomarer Teilhabe. Also wird sich Deutschland aufs Neue die Adenauer-Option der eigenständigen Atombewaffnung offenhalten.

Mit „nuklearem IQ“ …

Im vergangenen Jahr hat die „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS) ein Arbeitspapier herausgebracht, verfasst von Karl-Heinz Kamp, vormals Präsident der BAKS. Die Akademie wird derzeit geführt von Generalmajor Wolf-Jürgen Stahl („Russland ist auf absehbare Zeit die größte Gefahr!“). Organisatorisch ist die Akademie eine Dienststelle im Geschäftsbereich des Bundesministeriums der „Verteidigung“, politisch beaufsichtigt unmittelbar durch den Bundessicherheitsrat (Vorsitz: Bundeskanzler Merz). Die Zeitenwende wird hier mit der Atomuhr gemessen: „Die verbreiteten Träume von einer Welt ohne Atomwaffen sind der Erkenntnis gewichen, dass die nukleare Zukunft politisch gestaltet werden und Deutschland dabei seine Inte­ressen einbringen muss. Hierzu bedarf es nuklearer Expertise auf allen Ebenen der Politik, des Journalismus und der interessierten Öffentlichkeit. Zu einer Steigerung des nuklearen IQ in Deutschland müssen die Hochschulen durch ein verändertes Lehrangebot ebenso beitragen wie die Bundeswehr, die Think-Tanks und die nationalen Fortbildungseinrichtungen“.

Eine der federführenden NATO-treuen „Denk-Fabriken“, die bundeshaushaltsfinanzierte „Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik“ (DGAP), hat in der neuesten Ausgabe ihrer „Hand an die Hosennaht“-Postille „Internationale Politik“ den nächsten Schritt zur nuklearen Zeitenwende vorgezeichnet: „Aufgrund dieser politischen Unwägbarkeiten ist Deutschland gut beraten, genauso wie Japan und Südkorea in nukleare Latenz, also die grundlegenden Fähigkeiten für ein nationales Atomwaffenprogramm, zu investieren – natürlich ohne dass die politische Führung dies offensiv kommuniziert“, empfiehlt Thorsten Benner (Global Public Policy Institute – GPPI). Warum das die politische Führung „nicht offensiv kommunizieren“ soll, wird klar, wenn man sich die völkerrechtlichen Bindungen Deutschlands vergegenwärtigt. Hier wird die Bundesrepublik einige Arbeit im Hintergrund leisten müssen, um ihren internationalen rechtlichen Verpflichtungen zu entgehen.

… und rechtlichen Hindernissen

Den Atomwaffenverbotsvertrag aus dem Jahr 2017 („Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons“), der den Besitz von Atomwaffen verbietet, hat Deutschland zwar nie unterzeichnet, aber den 1968 geschaffenen „Non-Proliferation Treaty“ (Atomwaffensperrvertrag) haben unter anderem die USA, Großbritannien und Deutschland ratifiziert. Ein Austritt aus dem Vertrag ist entsprechend Artikel 10 durchaus möglich. Daneben ist der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ von 1990 wirksam. Er verbietet Deutschland den Besitz, genauer: die „Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen“ (Artikel 3). Die im pfälzischen Büchel deponierten US-Atomsprengköpfe sind einerseits zwar körperlich in Deutschland, „verfügen“ können deutsche Regierungsstellen über sie dennoch nicht („Teilhabe“-Konstruktion). Der Vertrag enthält weder eine Rücktritts- noch eine Kündigungsklausel, ein Austritt würde von der Textauslegung her nur im Einvernehmen aller Vertragsparteien (USA, Russland, Frankreich und Großbritannien) gelingen können.

Für die These, dass hier bereits an höchster Regierungsstelle darüber nachgedacht wird, wie dieser Vertrag ausgehebelt werden kann, spricht eine Passage in einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vom 8. November des vergangenen Jahres, die sich – natürlich rein zufällig – mit der Fragestellung „Atomare Bewaffnung Deutschlands und Zwei-plus-Vier-Vertrag“ beschäftigt. Dort wird der Bindungscharakter des Vertrags abgeschwächt, aus einem „Du musst“ wird ein „Du solltest“: „Der Zwei-plus-Vier-Vertrag bekräftigt diese Verpflichtungen, bleibt aber insoweit nur ‚deklaratorisch‘. Der Vertrag beinhaltet gewissermaßen eine ‚Ermahnung‘ an das wiedervereinigte Deutschland, sich an bestehende rechtliche Verpflichtungen zu halten“.

Den Bemühungen, die Hürden des „Zwei-plus-Vier-Vertrages“ für eine atomare Selbstbewaffnung Deutschlands aus dem Weg zu räumen, wäre eine weitere Eskalation im deutsch-russischen Verhältnis förderlich. Die Einrichtung des NATO-Marine-Hauptquartiers in Rostock, der Weiterbau der NATO-Pipeline in das Gebiet der früheren DDR, der Transport von NATO-Soldaten durch das Gebiet der früheren DDR – all das verstößt bereits gegen den Vertragsinhalt und soll die Öffentlichkeit daran gewöhnen, dass hier keine Bindungen mehr bestehen. Eine Auflösung der vertraglichen Verpflichtungen bis zur Infragestellung des Vertrags überhaupt mündet völkerrechtlich in einen Status, den sich niemand, der Frieden will, wünschen kann: Schließlich hat der westdeutsche Staat, der sich 1989 die DDR einverleibt hat, mit Russland nie einen Friedensvertrag geschlossen. Die, die im Regierungsviertel und in den Stäben über Raketen und Atomwaffen reden, interessiert das augenscheinlich nicht.

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"Von „Dark Eagle“ zur deutschen Bombe", UZ vom 27. Juni 2025



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