Marschieren wir gegen den Osten? Nein! Marschieren wir gegen den Westen? Nein! Wir marschieren für die Welt, die von Waffen nichts mehr hält, denn das ist für uns am besten!“ Nicht alle der gut 500 Teilnehmer des 32. Bundesweiten Friedensratschlags in Kassel singen textsicher mit, als Philipp Hoffmann zur Eröffnung das Lied der Ostermarsch-Bewegung anstimmt. Das ist gut – weil es zeigt, dass die Teilnehmer des größten Vernetzungstreffens der Friedensbewegung in Deutschland jünger geworden sind. Ein Viertel von ihnen sei zum ersten Mal dabei, freut sich Jutta Kausch-Henken vom Bundesausschuss Friedensratschlag bei der Eröffnung.
Das Jugend-Podium am Samstagabend gegen die Wiedereinführung der Wehrpflicht habe ihr zum ersten Mal seit langem das Gefühl gegeben, es gehe weiter, sagte Barbara Heller im Abschlussplenum am Sonntag. Die Friedensaktivistin aus Bremen dürfte damit vielen Teilnehmern aus dem Herzen gesprochen haben. Seit Jahren diskutiert die Friedensbewegung, wie sie jünger werden kann. Das Jugend-Podium zeigt, dass erste Schritte fruchten. Sieben Vertreter von sechs Jugendorganisationen sowie der DFG-VK diskutierten hier, wie die geplante Wiedereinführung der Wehrpflicht verhindert werden kann. Die sei nämlich ein elementarer Teil der Kriegsvorbereitungen der Bundesregierung, unterstrich die SDAJ-Vorsitzende Andrea Hornung. Der Kampf gegen die Wehrpflicht sei strategisch entscheidend. Die Regierung führe sie stufenweise wieder ein, erläuterte Hornung. Widerstand müsse „an jeder Stelle“ dagegen geleistet werden.
Die zentralen Fragestellungen der Friedensbewegung umrissen Ingar Solty, Michael von der Schulenburg und Ulrike Eifler im Eröffnungsplenum am Samstagvormittag. Das deutsche Wirtschaftsmodell, basierend auf günstiger Energie aus Russland und einem großen Niedriglohnsektor, sei an sein Ende gekommen, erklärte Solty. Dieses Modell sei auf Kosten Europas gegangen und habe dort zu Deindustrialisierung geführt. Heute unterliege die BRD selbst einer schleichenden Deindustrialisierung. Für weite Teile der Bevölkerung bedeute das, absolut zu verarmen, sagte der Referent für Friedens-, Außen- und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der Aufrüstungskurs der Bundesregierung sei kein Mittel dagegen. Er gehe zulasten ziviler Produktion und schade der Innovationskraft. „Rüstung ist ein Treiber von Deindustrialisierung und beschleunigt sie.“ Die Rüstung verändere die Gesellschaft strukturell und führe zu „Krieg in Permanenz“.
Michael von der Schulenburg (MdEP, BSW) bescheinigte der deutschen und europäischen Politik einen „Realitätsverlust“. Die EU benehme sich wie ein großer Staat, sei es aber nicht. 2050 stelle die EU nur noch 4,5 Prozent der Weltbevölkerung. Schon heute seien die BRICS-Länder den G7-Staaten überlegen. Der ehemalige UN-Diplomat beklagte, es gebe wenig Bewusstsein für die heutige Gefahrenlage. „Europa wäre der erste Kontinent, der in einem Nuklearkrieg vernichtet würde.“ Die UN-Charta verpflichte zu Friedensverhandlungen. Im EU-Parlament habe er nur Resolutionen gelesen, die den Ukraine-Krieg verlängern wollten.
Ulrike Eifler, Mitglied des Parteivorstands von „Die Linke“ und Gewerkschaftssekretärin (IG Metall), trat für eine in den Gewerkschaften verankerte Friedensbewegung ein. Gewinne die Friedensbewegung Beschäftigte in den Betrieben für ihr Anliegen, gewinne sie an Durchsetzungskraft. „Es gibt keine rechtere und gefährlichere Politik als die Vorbereitung eines Krieges.“ Die „Zeitenwende“ ordne alles der Kriegsvorbereitung unter. Das erhöhe den Druck auf die Gewerkschaften. Die bräuchten „zuallererst unsere Unterstützung und erst im zweiten Schritt unsere solidarische Kritik“. Eifler machte auch Mut: Sie erinnerte daran, dass streikende Arbeiter den Ersten Weltkrieg beendeten. Der Zweite Weltkrieg habe erst begonnen werden können, nachdem die „großen Klassenorganisationen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung“ zerschlagen worden seien. Das zeige, dass die Kraft und Stärke der organisierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung Kriege verhindern oder beenden könnten. Der Sozialkahlschlag der Bundesregierung biete eine Chance, die Friedensfrage in gewerkschaftliche Debatten zu tragen. Dass diese Diskussion in Bewegung gekommen sei und mehr geschehe, „als wir in unserer politischen Ungeduld häufig vermuten“, stimme sie optimistisch, so Eifler.
Nur mit viel historischem Optimismus ließen sich die Zahlen aushalten, die der Berliner Friedensforscher Lühr Henken in seinem Workshop am späten Samstagnachmittag präsentierte. Ausgehend von Zahlen westlicher bürgerlicher Medien rechnete Henken vor, wie absurd und gefährlich der Rüstungskurs der Bundesregierung ist. Die aktuelle Epoche sei vergleichbar mit der der Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren. „Die neuen Bundestagsbeschlüsse sprengen alle Dimensionen.“ Russland werde in ein ruinöses Wettrüsten gezwungen. Für den US-Imperialismus sei wichtig, dass Russland China möglichst wenig unterstütze. Die Angst vor einem russischen Angriff werde systematisch geschürt, dabei habe der Westen die Eskalationsspirale gestartet. Schon heute seien allein die europäischen NATO-Staaten Russland militärisch überlegen. Während sie weiter aufrüsten, sänken Russlands Militärausgaben 2026 um 6,7 Prozent. Auch die geplante Stationierung neuartiger US-Mittelstreckenraketen in der BRD sei keine Reaktion auf Russlands Kriegseintritt in der Ukraine. Diese solle zwischen dem 1. Juli und dem 30. September 2026 erfolgen, erklärte Henken. Die Friedensbewegung müsse die Arbeit mit dem Berliner Appell, der sich gegen diese Raketenstationierung ausspricht, verstärken. Der NATO-Propaganda müsse man Fakten entgegenhalten – „westliche, nicht russische“.
Im Abschlussplenum am Sonntagmittag diskutierten Barbara Heller, Christoph von Lieven (Vorstandsmitglied bei ICAN), Reiner Braun und Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands) darüber, wie Vernetzung, Aufklärung und Aktionen vorangetrieben werden können. Braun und Müller warben dafür, die Zusammenarbeit mit Russland und China zur Grundlage eines neuen Verständnisses von Sicherheit zu machen. Die Friedensbewegung müsse immer deutlich machen, dass der Hauptfeind im eigenen Land stehe, unterstrich Braun. Die europäischen Friedensbewegungen müssten eine gemeinsame Demonstration in Brüssel organisieren, forderte er mit Blick auf den Aufrüstungskurs der EU. „Die NATO zu delegitimieren, ist unsere praktische Aufgabe. Nehmt sie mit nach Hause“, gab er den Teilnehmern auf.
Von Lieven erinnerte daran, dass das Grundgesetz keine Grauzone zwischen Krieg und Frieden kenne. „Sagt der Bundeskanzler etwas anderes, bewegt er sich außerhalb des Grundgesetzes.“ Wie viele andere Diskutanten auch, plädierte von Lieven für eine „andere Wirtschaftsordnung“. Im Kapitalismus könne es keinen dauerhaften Frieden geben.
Müller ermunterte zu „Mut zur Mündigkeit gegen Kriegskonformismus“. Die Friedensbewegung müsse das Klima in der Gesellschaft bestimmen. Barbara Heller riet dazu, neue Wege zu testen, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Bei Kundgebungen und Demonstrationen erlebe sie nicht, dass die Kriegspolitik hegemonial sei. Und: „Solche Aktionen stärken uns auch selber.“
Mark Ellmann, Leiter der Friedenskommission der DKP, warb in der Diskussion für die Arbeit mit dem Berliner Appell. Die geplante Raketenstationierung sei noch immer kaum bekannt. Dem schloss sich Jutta Kausch-Henken in ihrem Schlusswort an: „100.000 Unterschriften reichen bei weitem nicht.“
Ausgewählte Redebeiträge, die auf dem 32. Bundesweiten Friedensratschlag gehalten wurden, veröffentlichen wir im UZ-Blog. Von manchen Reden gibt es Videomitschnitte, die auf der Website des Bundesausschuss Friedensratschlag verlinkt sind.



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