Am Nachmittag des 30. August liest eine junge Genossin in der Mainzer Innenstadt vor einem interessierten Publikum. Passanten bleiben stehen und lauschen einem Satz aus der Erzählung „Der Ausflug der toten Mädchen“ von Anna Seghers: „Dann verstand ich klar, die Christhofskirche konnte unmöglich bei einem nächtlichen Fliegerangriff zerstört worden sein.“ Unweigerlich schweift der Blick des Publikums zur Kirche, die direkt hinter der Vorleserin aufragt. Sie ist nur noch eine Ruine, die heute als Mahnmal gegen den Krieg dient. Die von Seghers meisterhaft verarbeitete Mischung aus schrecklicher Vorahnung und Verdrängung beschreibt auch die gegenwärtige Stimmung der Bevölkerung in Deutschland treffend. Kriege drohen, doch Widerstand ist möglich: Das war der Ausgangspunkt des Antimilitaristischen Aktionstags, zu dem ein breites Bündnis aufgerufen hatte.
Begonnen hatte der Tag mit einer kleinen, aber feinen Jugenddemonstration gegen die Wehrpflicht, die ihren Ausgang an einem militaristischen Denkmal am Mainzer Rheinufer nahm. In den Ansprachen machten die jungen Rednerinnen und Rednern deutlich, dass ein großer Teil der Jugendlichen nicht bereit ist, für Profitinteressen der Monopole in den Krieg zu ziehen. Immer wieder wurde dabei Solidarität mit Palästina bekundet. Der Marsch erregte in der belebten Mainzer Altstadt große Aufmerksamkeit.
Nach Ankunft auf dem Vorplatz der Gedenkkirche St. Christoph, um die herum ein Dorf aus Zelten und Pavillons aus dem Boden gewachsen war, hielt Michael Quetting, Kandidat für den Landesbezirksvorsitz von ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland, eine fulminante Rede. Mit marxistischem Scharfsinn analysierte er die Lage der Arbeiterklasse in der aktuellen Entwicklung hin zu einer kriegsfähigen Gesellschaft. Die Arbeiter unseres Landes sollen dazu gebracht werden, auf Arbeiter eines anderen zu schießen – dabei haben sie mit diesen mehr gemein als mit den Kriegstreibern. Quetting plädierte dafür, die Botschaft in die Gewerkschaften zu tragen, dass Krieg immer zuallererst der Arbeiterklasse schadet und die Arbeiterbewegung sich ihm deshalb entgegenzustellen habe. Eine gute Rede erkennt man daran, dass sie Zuhörer mit ganz unterschiedlichen Hintergründen erreicht. Und das war hier der Fall, denn alle, die man gefragt hat, waren angetan – sei es die SDAJ, das BSW, die Linkspartei, die ver.di-Jugend oder der Versöhnungsbund. Die Zufriedenheit, etwas Gutes auf die Beine gestellt zu haben, zog sich durch den ganzen Tag. Es herrschte die Einsicht vor, dass man viel erreichen kann, wenn man die Kräfte bündelt – so wie im Fall von DKP und SDAJ Rheinland-Pfalz, die diesen Aktionstag initiiert hatten. Dabei konnten die Früchte einer klaren und zuverlässigen Bündnisarbeit geerntet werden. Ein Erfolg war, dass die große Mehrzahl der Teilnehmenden jungen Alters war. Die Friedensbewegung wird einen langen Atem brauchen – auch und gerade in der Provinz.
In einer Diskussionsrunde zu Raketenstationierungen und Militärbasen in der Region unterstrich Jan Menning, Sprecher des Wiesbadener Bündnisses gegen Raketenstationierung, dass die Stationierung des Kommandos der US-Hyperschallraketen inmitten des Rhein-Main-Gebiets der Verwendung eines millionenfachen menschlichen Schutzschildes gleichkomme. Hildegard Slabik-Münter von der IPPNW wies aus ärztlicher Sicht darauf hin, dass die Auswirkungen eines atomaren Angriffs medizinisch nicht aufzufangen seien. Ähnlich, wenn auch aus einer anderen Richtung kommend, hatte sich dazu die Bundestagsabgeordnete der Partei „Die Linke“, Julia C. Stange, geäußert, als sie warnte: „Wenn es zu einem Krieg kommt, werden wir Pflegekräfte euch nicht helfen können“. Der Befreiungstheologe Bruno Kern wies darauf hin, dass die jüngste Rechtsprechung die Möglichkeiten zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen stark eingeschränkt habe, was er als eine Form der Kriegsvorbereitung einordnete. All diese Themen erreichten nicht nur diejenigen, die gekommen waren, um den Aktionstag zu besuchen – wohl um die 400 Menschen über den Tag verteilt –, sondern auch Passanten, von denen viele stehenblieben, sich an einem der ein Dutzend Infostände in ein Gespräch verwickeln ließen, bei der ver.di-Jugend an einem Graffiti-Workshop teilnahmen oder in antiquarischen Büchern schmökerten. Dazu gab es auch engagierte Musik von der Band Morgenrot aus Trier und dem Friedenshaus Rüsselsheim. Der Rapper Julyo gab sein Konzertdebüt in der Öffentlichkeit und wusste damit und mit seinen charmant eingestreuten Friedensbotschaften nicht nur die zahlreich mitgebrachten Fans zu begeistern. Zum Schluss stiegen rote Luftballons mit Wünschen nach Abrüsten statt Aufrüsten in den Himmel. Sie taten den Veranstaltern ganz von selbst den Gefallen, den Weg in Richtung der Airbase Wiesbaden-Erbenheim zu suchen.