Polizisten verletzen Zwölfjährige in Bochum lebensgefährlich

Schießen statt kommunizieren

Ein zwölfjähriges Mädchen flüchtet aus seiner Wohngruppe zu seiner Mutter, wird dort von der Polizei gefunden – und niedergeschossen. Das ist die Kurzfassung einer Meldung vom Montag aus Bochum. Und der jüngste Fall von außer Rand und Band geratener Polizeigewalt, die sich vor allem gegen Menschen in psychischen Ausnahmesituationen richtet und immer mehr Opfer fordert.

Der Reihe nach: Am Sonntag meldet ein Betreuer einer Wohngruppe aus Münster das zwölfjährige Mädchen als abgängig. Die Jugendliche ist gehörlos und auf lebenswichtige Medikamente angewiesen. In der Nacht zum Montag bekommt die Polizei Hinweise, das Mädchen könne sich in der Wohnung seiner Mutter in Bochum aufhalten. Gegen 0.30 Uhr klingeln Einsatzkräfte an der Tür. Niemand öffnet. Die Beamten benachrichtigen den Schlüsseldienst. Gegen 1.30 Uhr öffnet die ebenfalls gehörlose Mutter die Tür doch. Das geht jedenfalls aus Polizeimeldungen und übereinstimmenden Medienberichten hervor.

Einer ersten Pressemitteilung der Polizei Essen vom Montag zufolge, die von der Bochumer Staatsanwaltschaft mit Ermittlungen beauftragt wurde, soll die zwölfjährige Vermisste „mit zwei Messern in der Hand auf die Polizisten“ zugegangen sein und sie angegriffen haben. Wie der „Angriff“ ausgesehen haben soll, schildert die Polizei nicht. „Nach erstem Erkenntnisstand“ griffen Polizeibeamte das Mädchen zeitgleich mit einem Distanzelektroimpulsgerät, landläufig Taser genannt, und einer Schusswaffe an. Ein Notarzt brachte die Niedergeschossene zur intensivmedizinischen Versorgung in ein Krankenhaus. Der Zustand des Opfers sei „stabil, aber kritisch“, teilte die Polizei Essen am Dienstag mit. Ein Beamter soll ihm in den Bauch geschossen haben.

Der Einsatz wirft eine Reihe von Fragen auf. Die Beamten sollen von der Gehörlosigkeit der Vermissten sowie deren Mutter gewusst haben, das legen zumindest Medienberichte nahe. Haben sich die Polizisten Gedanken darüber gemacht, wie Kommunikation in dieser Situation funktionieren kann? Haben sie Pläne gemacht für den Fall, dass die Kontaktaufnahme nicht funktioniert? Haben sie Spezialisten zu Rate gezogen? War das bewaffnete Eindringen in die Wohnung der Mutter der Vermissten notwendig – oder hätte es deeskalierende Alternativen gegeben? Ist der Einsatz von Waffen gegen ein zwölfjähriges Mädchen in einer psychischen Ausnahmesituation gerechtfertigt?

Das nordrhein-westfälische Polizeigesetz legt in Paragraph 63 fest: „Gegen Personen, die dem äußeren Eindruck nach noch nicht 14 Jahre alt sind, dürfen Schusswaffen nicht gebraucht werden.“ Eine Ausnahme sieht das Gesetz vor, nämlich wenn „der Schusswaffengebrauch das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben ist“. Dass er das in diesem Falle nicht war, belegt schon der zeitgleiche Taser-Einsatz. Taser dürfen in Nordrhein-Westfalen übrigens grundsätzlich nicht gegen Minderjährige eingesetzt werden.

Wird Sozialarbeit durch Polizei ersetzt, wird geschossen statt gesprochen. Den höchsten Preis dafür bezahlen diejenigen, die am wenigsten dafür können. Politik und Justiz vermitteln den Tätern, dass ihre Handlungen ohne Konsequenzen bleiben.

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"Schießen statt kommunizieren", UZ vom 21. November 2025



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