Netanjahus Blutbad und ein „Wertewesten“ in Korrekturnot

Späte Distanz – ohne Deutschland

Kolumne

So wenig die Attacken der Hamas des 7. Oktober Netanjahus genozidale Antwort rechtfertigen können, so wenig taugt der jüngste Washingtoner Anschlag auf zwei israelische Botschaftsmitarbeiter dazu, die andauernde Ausradierung der Lebensgrundlagen in Gaza, die Herbeiführung von Hungersnot als Kriegswaffe, die in großisraelischen Expansionsfantasien geplante Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung zu legitimieren. Israels Außenminister, Gideon Sa’ar, sagte, es gäbe „eine direkte Verbindung zwischen antisemitischer und antiisraelischer Hetze und diesem Mord“. Diese Hetze werde „auch von Führungspersönlichkeiten und Amtsträgern vieler Länder und Organisationen betrieben, besonders aus Europa“. Netanjahu meinte, man wäre Zeuge „des schrecklichen Preises des Antisemitismus und der wilden Aufwiegelung gegen Israel“. Das sind Reflexe auf die lauter werdende Kritik „wertewestlicher“ Regierungen, die inzwischen befürchten, von der Geschichte als wohlmeinend stille, bestenfalls schmallippig warnende Komplizen des Gaza-Gemetzels gebrandmarkt zu werden. Ihre späte und noch immer halbherzige Distanz zu Netanjahus Verwüstungs- und Vertreibungskonzept folgt wohl auch dem Stimmungsbild unter den Bevölkerungen. Mitte Mai waren in Den Haag mehr als 100.000 Menschen unter der Losung „Wir ziehen eine rote Linie für Gaza“ auf die Straße gegangen. In Deutschland, so ermittelte die Bertelsmann-Stiftung, haben 59 Prozent der Befragten eine negative Meinung über Israels Regierung.

Hartmut Koenig - Späte Distanz – ohne Deutschland - Gaza-Krieg, Genozid - Positionen

Leider haben Deutschlands Regierungen in falschem Verständnis ihrer historischen Verantwortung für die gesicherte Existenz Israels dem Gegenteil Vorschub geleistet. Sie ließen das ultrarechte Machtzentrum Netanjahus gewähren, erwiesen sich als bedingungslose Waffenlieferanten und stellten Zahlungen an das UNRWA-Hilfswerk zeitweilig ohne nähere Prüfung ein. Demonstranten für ein gesichertes Lebensrecht der Palästinenser werden als antisemitische Straftäter verfolgt. Wer, wie jüngst mehrheitlich die Parteitagsdelegierten der Partei „Die Linke“, die „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ unterstützt, der zufolge Kritik an Israels Regierung nicht unter Antisemitismusverdacht geraten darf, kriegt von staatstragender Politik und medialem Echo sein Fett weg. Als eine Mehrheit der Mitgliedstaaten angesichts der Hungersnot in Gaza die Absicht unterstützte, das Partnerschaftsabkommen der EU mit Israel zu überprüfen, sprach sich Deutschland dagegen aus. Bei seinem Antrittsbesuch in Tel Aviv versicherte der deutsche Außenminister Wadephul, Deutschland stehe fest an der Seite Israels. Angeblich machte er ein bisschen „Du-du“ hinter den Kulissen, während draußen besonnene jüdische Stimmen Klartext herausschreien. Israel sei auf dem Weg, zum Paria der internationalen Staatengemeinschaft zu werden, ruft der ehemalige Generalmajor der israelischen Streitkräfte Jair Golan, „falls es sich nicht wieder wie ein vernünftiges Land verhält“. Es wundert nicht, dass, als Großbritannien, Frankreich und Kanada in einer gemeinsamen Erklärung Netanjahu bei Weiterführung der Gaza-Offensive „konkrete Maßnahmen“ androhten, Deutschland ante portas blieb. Und als israelische Soldaten auf eine Gruppe von Diplomaten in der besetzen Westbank das Feuer eröffneten, bestellten betroffene Länder empört Israels Botschafter ein. Deutschland nicht.

Die Merz-Regierung ist Meisterin im Stolpern. Dieses Talent setzt sich in ihrer Israel-Politik fort. Während sich eine aufgeschreckte westliche „Wertewelt“ von der ultrarechten Phalanx Netanjahus zu lösen beginnt und selbst Donald Trump in Nahost Zeichen setzt, die auf Netanjahus Inte­ressen keine Rücksicht mehr nehmen, sieht sich Deutschlands Regierung fortgesetzt in einer falschen Pflicht. Geschichtsbewusstes Handeln würde ihr gebieten, die Waffenlieferungen einzustellen und auf die Seite derer zu treten, die Israels Wohlergehen im Frieden mit den Palästinensern und der arabischen Nachbarschaft dauerhaft sichern wollen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Späte Distanz – ohne Deutschland", UZ vom 6. Juni 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flugzeug.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit