Flucht aus dem Isolierblock des KZ Mauthausen

Aufstand der Todgeweihten

Bruno Baum

„O Deutschland, bleiche Mutter“ nannte Fritz Cremer eine Plastik, die er Mitte der sechziger Jahre für die Gedenkstätte Mauthausen fertigte. Die Bronzeskulptur zeigt eine Frau, die auf einem Mauerstück sitzt. Ein Tuch umschlingt wie Stacheldraht oder Schnüre ihren Körper, das Gesicht verrät Schmerz, Wut, Trauer, Scham. Cremer, der zuvor die Monumentengruppe für Buchenwald geschaffen hatte, lehnte den Namen an ein Gedicht von Bert Brecht an, das dieser im ersten Jahr der faschistischen Diktatur geschrieben hatte: „O Deutschland, bleiche Mutter! / Wie sitzest du besudelt / Unter den Völkern. / Unter den Befleckten / Fällst du auf.“
Brecht ahnte, was da auf die Menschheit zukommen würde. Der KPD war zumindest die gesellschaftlichen Rolle des Faschismus klar: 1932 war sie mit der Losung „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler, wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“ in den Wahlkampf gezogen.
Im März 1938 marschierten deutsche Truppen in Österreich ein. Die Alpenrepublik wurde ans Deutsche Reich „angeschlossen“. Unmittelbar danach begannen deutsche und österreichische Faschisten unweit von Linz ein Konzentrationslager zu errichten. Das erste außerhalb Deutschlands. Mauthausen wurde zwar nicht das größte, wohl aber eines der grauenvollsten. In den dreizehn sogenannten Hauptlagern und in über zwanzig Nebenlagern schufteten 335.000 Menschen für die deutsche Rüstungsindustrie, 122.000 Häftlinge wurden ermordet. Viele starben im Steinbruch neben dem Lager, in dem Granit gebrochen wurde für den Ausbau der „Lieblingsstadt des Führers“, Linz. Die Inhaftierten mussten die Steinquader über 186 Stufen nach oben schleppen. „Todesstiege“ wurde die Treppe genannt. Sie führte am Abbruchhang vorbei, dort ging es fünfzig Meter steil in die Tiefe. Die SS stieß dort unzählige Menschen hinab und nannte sie zynisch „Fallschirmspringer“. An einem einzigen Tag, am 31. März 1943, wurden vor den Augen Himmlers so etwa eintausend aus Holland deportierte Juden umgebracht.
Bruno Baum kam am 18. Januar 1945 aus dem Vernichtungslager Auschwitz, das vor der heranrückenden Roten Armee „evakuiert“ worden war, nach Mauthausen. Das Martyrium des Juden und Berliner Kommunisten in Mauthausen währte etwas mehr als ein Vierteljahr. Da lagen bereits fast zehn Jahre Nazi-Haft hinter ihm. Er war 1936 zu dreizehn Jahren wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilt worden. 1965 erschien in Berlin sein Buch „Die letzten Tage von Mauthausen“, es sollte sein letztes sein: Baum starb Ende 1971 in Potsdam.
Der Berliner Verlag Neues Leben hat eine mit vielen erhellenden Dokumenten erweiterte, reich illustrierte Neuausgabe dieses Werkes herausgebracht. Maßgeblich wurde die Edition forciert und unterstützt vom KZ-Verband/VdA Oberösterreich, einer überparteilichen Organisation, die alte, ältere und junge Antifaschistinnen und Antifaschisten vereint. „Baum hat im Lagerwiderstand im Sanitätslager zahlreichen Kameraden das Leben erleichtern und retten können“, heißt es im Nachwort des Landesvorstandes des KZ-Verbandes/VdA OÖ. „Bruno Baum ist und bleibt für uns einer der ewigen Helden des antifaschistischen Widerstandes!“
Frank Schumann
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags druckt UZ Auszüge aus dem Kapitel „Die Helden des Todesblocks“ ab.

In der Nacht vom 2. zum 3. Februar, kurz nach Mitternacht, wurden wir Häftlinge durch Schüsse geweckt. Das gesamte Lager geriet in Aufruhr, die Alarmsirenen begannen zu heulen und die Wachmannschaften rannten im Lager hin und her. Den Häftlingen wurde verboten, die Baracken zu verlassen oder auch nur ans Fenster zu treten.

Am nächsten Morgen erfuhren wir: Die Insassen des Blocks 20, des sogenannten Isolierblocks, waren entflohen! Dieser Block befand sich am äußersten Ende des Lagers, von diesem durch eine hohe Mauer abgetrennt. Drei Wachtürme, bestückt mit je einem schweren und einem leichten Maschinengewehr, isolierten ihn nahezu vollständig.

Der „Isolierblock“ war im Sommer 1944 geschaffen worden. Seitdem waren etwa 5.500 bis 6.000 Häftlinge eingeliefert worden, jedoch niemals welche entlassen worden. Deshalb nannten wir ihn alle nur den Todesblock.

Die Drangsalierungen durch die SS-Leute begannen bereits bei der Einlieferung in den „Isolierblock“. Das Opfer wurde in das sogenannte Bad gejagt und oft für mehrere Stunden unter die eiskalten Strahlen der Dusche gestellt. Danach schnitt ihm ein „Friseur“ von der Stirn bis zum Nacken einen breiten Streifen ins Haar, und schließlich warf man ihm eine verschmutzte Hose und eine Jacke aus grobem Gewebe zu. Unter Stockschlägen wurde er im Laufschritt zum Eingang des Todesblocks gejagt und dabei gezwungen, sich anzuziehen.

Hatte der Häftling dies alles überstanden, dann gelangte er in die einzige Baracke, die sich hinter der Mauer befand. Sie hatte drei Abteilungen. In der ersten lagen die Kranken, in der zweiten – zehn Meter mal zwölf Meter im Geviert – hielten sich oft bis zu 500 Häftlinge auf. Hier gab es weder Pritschen noch Betten, nicht einmal Stroh. Die Menschen schliefen auf dem bloßen, schrecklich verdreckten Boden, ja, viele mussten sogar stehend schlafen.

In der dritten Abteilung, sie lag in der Mitte der Baracke, befanden sich die Diensträume. Hier war auch das Zimmer des Blockältesten, eines zum Tode verurteilten Kriminellen, der aber begnadigt worden war, um als Henker verwendet zu werden. Drei Stubendienste, die Polen Adam und Wolodja sowie ein ehemaliger sowjetischer Kavallerieleutnant, der „Mischka, der Tatare“ genannt wurde, waren Handlanger dieses Henkers geworden und halfen ihm bei der Ermordung der Gefangenen.

Die Häftlinge, die sich kaum auf den Beinen halten konnten, wurden gezwungen zu laufen oder zu kriechen, immer um die Baracke herum, sie hatten dabei ohne Pause Strecken von drei bis vier Kilometern zurückzulegen. Viele stürzten und erhoben sich nicht wieder. Andere brachen unter den tödlichen Schlägen der gummiüberzogenen, bleigefüllten Knüppel zusammen. Sie alle – ob tot oder lebendig – wurden zum Leichenstapel geschleppt. Die SS-Leute vergnügten sich damit, den Gefangenen in die Arme und Beine zu schießen und sie in den Kanalisationsabfluss zu werfen.

Wenn die Henker schließlich ermüdet fortgegangen waren, begannen die Todgeweihten den sogenannten Ofen zu bilden. Dabei drängten sie sich eng zusammen und wärmten sich gegenseitig. Dann ging dieser „Ofen“ auseinander, und daneben entstand ein neuer, so dass diejenigen, die zuerst außen gestanden hatten, sich jetzt im Innern der Menge befanden und gewärmt wurden.

Im Januar 1945 waren von den nahezu 6.000 Menschen, die in den Todesblock eingeliefert worden waren, etwa 800 übriggeblieben. Mit Ausnahme von fünf oder sechs Polen – Teilnehmern des Warschauer Aufstandes – und einigen Jugoslawen waren alle Häftlinge sowjetische Offiziere, meist Flieger. Oberst Alexander Issupow hatte in der Gefangenschaft offen seine Verachtung und seinen Hass gegenüber dem Faschismus geäußert. Als in dem Offizierslager, wo er sich befand, ihm die Faschisten nahelegten, auf einer Versammlung seine Kameraden zum Verrat zu bewegen, willigte er zwar ein, hielt jedoch eine flammende Rede, in welcher er die Vaterlandsverräter brandmarkte und die Kameraden aufforderte, auch in der Gefangenschaft gegen den Feind weiterzukämpfen. Dafür war er in den Todesblock gebracht worden, wo er zusammen mit Nikolai Wlassow begann, die Flucht vorzubereiten. In den illegalen Stab wurden ferner Oberst Kyrill Tschubtschenkow und Hauptmann Gennadi Mordowzew aufgenommen. Dieser Stab erörterte alle Einzelheiten des Aufstandes während der „Öfen“, wenn man in der Menge miteinander sprechen konnte, ohne vom Blockältesten und seinen Handlangern bemerkt zu werden.

Der Beginn der Aufstandsaktion wurde auf die Nacht vom 28. zum 29. Januar festgesetzt.

Zwei oder drei Nächte vor der geplanten Flucht tauchten plötzlich SS-Leute in der Baracke auf. Offensichtlich waren der Lagerleitung durch irgendwelche Provokateure die Vorbereitungen verraten worden. Fünfundzwanzig Mann wurden aufgerufen und abgeführt, unter ihnen Wlassow, Issupow und Tschubtschenkow.

Am nächsten Tage wurde bekannt, dass sie im Krematorium ermordet worden waren.

Obwohl nun der Stab nicht mehr existierte, wurde der Aufstand nur für einige Tage verschoben. Eine wichtige Rolle soll dem Vernehmen nach ein Journalist gespielt haben, Wolodja mit Vornamen. Wolodja hatte vom Blockältesten die Erlaubnis erwirkt, seinen Kameraden nachts über Bücher zu berichten. Durch seine Erzählungen begeisterte er die Gefangenen und bereitete sie moralisch auf den künftigen Aufstand vor. In den letzten Nächten vor der Flucht instruierte er seine Kameraden, indem er sich den Anschein gab, als erzähle er wieder über Bücher, wie sie sich während des Sturmes auf die Ummauerung verhalten müssten.

Die Nacht vom 2. zum 3. Februar brach an. Am Abend, als die Gefangenen in die Baracke gejagt worden waren und die Wache abgezogen war, wurde der verbrecherische Blockälteste getötet. Die Häftlinge „bewaffneten“ sich und formierten sich zu den Sturmgruppen.

68 Häftlinge konnten nicht am Aufstand teilnehmen. Sie waren nicht mehr in der Lage, sich aufrecht zu halten. Diesen Menschen war es klar, dass die Wachmannschaften sie sofort umbringen würden. Unter Tränen nahmen sie Abschied von den Freunden und wünschten ihnen Erfolg bei ihrem Vorhaben. Nur durch eines konnten sie ihren Kameraden helfen – sie überließen ihnen ihre Pantinen und ihre Kleidung. Die Kleidungsstücke, mit Wasser getränkt, sollten die Flüchtenden auf den stromgeladenen Draht werfen, um einen Kurzschluss hervorzurufen.

Zehn Minuten vor ein Uhr war alles bereit. Ein älterer Mann mit grauem Haarschopf – er soll Oberst oder General der Rückwärtigen Dienste gewesen sein – wandte sich an die Häftlinge mit einer Abschiedsrede: „Ich habe keine Vollmachten von unserem Oberkommando oder der Regierung, aber ich erkühne mich, in ihrem Namen Ihnen allen dafür zu danken, dass Sie hier, in der faschistischen Hölle, standgehalten und die Würde eines Soldaten und Bürgers der UdSSR nicht eingebüßt haben. Wir müssen zu unserem letzten Gefecht antreten und sterben, wie es einem Soldaten geziemt. Aber vielleicht wird es irgendjemand von uns glücken, durchzukommen und in die Heimat zurückzukehren. Möge er den Menschen von dem erzählen, was hier geschehen ist, und der Heimaterde unseren letzten Gruß und unsere Liebe überbringen. Schwören wir es beim Andenken an die gefallenen Kameraden!“

Alle schworen es, und dann erscholl der Ruf: „Für die Heimat! Vorwärts!“ Alle Fenster der Baracke öffneten sich gleichzeitig, und unter Hurra-Rufen stürzten die Häftlinge los, zum Sturm auf die Wachttürme und die Mauer.

Von drei Seiten hämmerten Maschinengewehre auf sie ein. Aber ein Hagel von Steinen, Pantinen und Kohlenstücken schlug gegen die Wachttürme. Die zertrümmerten Scheinwerfer erloschen, und sofort kletterten mehrere Gefangene auf einen Wachtturm. Im Besitz des Maschinengewehrs begannen die Aufständischen die anderen Wachttürme zu beschießen.

Unterdessen aber stürmten die übrigen die Mauer, die den Block umgab. Eine Reihe von Häftlingen stellte sich gebückt an die Mauer, andere kletterten ihnen auf die Schultern und warfen die nassen Decken und Kleidungsstücke auf den Draht. Kurzschluss! Das Licht im ganzen Lager erlosch. In der Dunkelheit schossen von allen Seiten die SS-Leute mit Maschinengewehren in die Richtung des Todesblocks. Der Hof des Blocks war mit Leichen übersät, tote Körper hingen im Draht und lagen auf der Mauerkrone, aber neue Scharen von Flüchtenden kletterten, sich gegenseitig stützend, über die Umzäunung. Dahinter gab es neue Hindernisse – einen Wassergraben, Stacheldrahtspiralen, einen hohen Stacheldrahtzaun. Aber nichts konnte den Strom der Todgeweihten aufhalten. Sie durchbrachen die Einzäunung und befanden sich außerhalb des Lagerbereichs.

Die größte Gruppe der Häftlinge eilte auf einen Wald in der Nähe zu. Als die Verfolger begannen, sie einzuholen, lösten sich etwa zwei Dutzend Gefangene aus der Menge. Sie kehrten um und gingen unter dem Gesang der „Internationale“ direkt auf die Verfolger zu, um den Kameraden einen Zeitgewinn zu ermöglichen.

Nur wenigen glückte die Flucht, zumeist durch die Hilfe von Landsleuten, die von den Faschisten zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren. Andere versteckten sich in den Wäldern oder schlugen sich zur Roten Armee durch. Obwohl jedem, der den Geflohenen irgendwelche Hilfe gewährte, die Todesstrafe drohte, fand sich doch in der näheren Umgebung von Mauthausen eine Familie, die half. Diese Familie, Langthaler mit Namen, versteckte zwei der Flüchtigen bis zur Befreiung des Landes. Die meisten der Geflohenen wurden jedoch eingefangen und ermordet.

Für uns und für alle mit uns Verbundenen war dieser Ausbruch ein Signal, aber auch eine Verpflichtung, uns noch enger zusammenzuschließen und noch bessere Kampfvorbereitungen zu treffen. Dieser Ausbruch hatte bewiesen, dass es selbst unter den schwierigsten Bedingungen möglich war, gegen die SS zu kämpfen. So war die Aktion der Insassen des Blockes 20 nicht vergebens gewesen.

Bruno Baum
Die letzten Tage von Mauthausen
Verlag Neues Leben, 224 Seiten, 16 Euro

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"Aufstand der Todgeweihten", UZ vom 9. Mai 2025



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