Mit der Festnahme Daniela Klettes in einem Kreuzberger Mietshaus Ende Februar 2024 begannen Verfolgungs- und Ermittlungsbehörden ebenso wie bürgerliche Medien einträchtig mit der Reinszenierung eines systemaffirmativen Mythos – dem der existenziellen Bedrohung durch die Rote Armee Fraktion (RAF), der es mit einer staatlichen und gesellschaftlichen Mobilisierung zu begegnen gelte. Obwohl die antikapitalistische Untergrundorganisation bereits 1998 ihre Selbstauflösung erklärt und während ihres 28-jährigen Bestehens bei bewaffneten Aktionen wohl allenfalls ein Siebtel der Anzahl an Toten zu verantworten hatte, die seit der Einverleibung der DDR 1990 rechten Gewalttaten zum Opfer fielen, kam plötzlich wieder ein Hauch Deutschen Herbstes auf. So rollten etwa polizeiliche Panzerfahrzeuge durch Berliner Straßen und die ersten Wochen der Untersuchungshaft Daniela Klettes trugen starke Züge Weißer Folter, wie sie im Umgang der BRD-Justiz mit RAF-Gefangenen viel zu lange gang und gäbe waren. Sich um eine Besuchserlaubnis bemühende Personen erhielten fadenscheinig begründete Vorladungen, die Anmelderin einer Solidaritätskundgebung verlor ihren Arbeitsplatz und anlässlich des Prozessauftakts innerhalb des Staatsschutzsaals des Oberlandesgerichtes Celle entblödete sich die „Bild“ nicht, mit der Schlagzeile „Das Böse lacht!“ aufzumachen. Wenn es noch eines Beleges für die hohe Relevanz und Aktualität von „Erzählung zur Sache“, des 2023 im Secession Verlag veröffentlichten dritten Romans der Schriftstellerin Stephanie Bart, bedurft hätte, sollte er hiermit geliefert worden sein.

„Erzählung zur Sache“ nähert sich in sieben Kapiteln dem Kampf der RAF ab der Mai-Offensive 1972 bis zu der sogenannten Todesnacht von Stammheim im Oktober 1977 auf äußerst facettenreiche, literarisch ungemein virtuose Art und Weise an. Bereits mittels eines dem fast 700 Seiten umfassenden Text vorangestellten „Haftungsausschlusses“, der die Montage namentlich nicht zugeordneter Originaltöne in einem „Team Gudrun“ versammelter Autorinnen und Autoren ankündigt, bereitet Stephanie Bart auf einen gleichermaßen durch subversive Vielstimmigkeit und radikale Subjektivität gekennzeichneten Erzählansatz vor. Den Großteil der Handlung verfolgen wir als Lesende denn auch aus der Perspektive Gudrun Ensslins. So findet sich im furiosen Auftakt, der den Bombenanschlag auf das zentrale, US-Militär- und CIA-Strukturen beherbergende I. G.-Farben-Haus in Frankfurt am Main mit enormer sprachlicher Dichte beschreibt und historisch in die globalen Proteste gegen den Vietnamkrieg einordnet, beispielsweise das beredte Bild der sich im Fluchtwagen beidhändig Puffreis in den Mund stopfenden RAF-Mitbegründerin, die den finalen Sieg über das imperialistische Weltbiest weissagt: „Alle Arten von Ungeheuer werden besiegt werden.“
Bekanntlich nimmt die Geschichte eine gänzlich andere Entwicklung, die RAF gerät rasch aus der Offensive in die Defensive und Gudrun Ensslin muss als „hauptberufliche Revolutionärin im Gefängnis“ den politischen Kampf fortsetzen, wobei sie ein mutmaßliches Credo der Romanautorin formuliert: „Keine Praxis ohne Theorie, keine Theorie ohne Praxis, keine Bücher ohne Revolution, keine Revolution ohne Bücher.“
Die Lesenden begleiten die Protagonistin hautnah bei ihrem entschlossenen Widerstand gegen ein bis in die Gitterspitzen politisiertes Justizsystem, das für Gefangene der Stadtguerilla lediglich zwei Optionen bereitzuhalten scheint: Aufgabe und Verrat oder Auslöschung. Sie können Willkür, Demütigung, Ohnmacht und konzentrierte Gewalt nacherleben, kulminierend in der entsetzlichen Prozedur der Zwangsernährung während mehrerer kollektiver Hungerstreiks, die Gudrun Ensslin sich fühlen lassen wie „ein Zugpferd mit der Menschheit im Schlepptau“. Wir sitzen an ihrer Seite im Stammheim-Prozess dem Vorsitzenden Richter Theodor Prinzing gegenüber, der immer wieder „schmerzfrei, schamlos, ohne Angst, sich zu blamieren“, die von ihm selbst gebetsmühlenartig beschworenen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit ad absurdum treibt. Der Text enthält hierbei durchaus eine Reihe komischer Momente, etwa bei der Beschreibung, wie Gudrun Ensslin sich körperlich und sprachlich windenden imaginären Verteidigerinnen und Verteidigern der RAF-Gefangenen bei einer gemeinsamen Gymnastikeinheit einen gepfefferten rhetorischen Einlauf verpasst: „Gudrun packte sie an ihren Schöpfen und Krägen und setzte sie, bekleidet in Trainingsanzüge, auf ihr Bett in der Zelle wie auf die Schulbank, Bibelstunde, sie brauchten die Leviten, sie hatten Kladden dabei und machten Notizen und waren einander mit ihren Ellenbogen im Weg, so eng war es auf dem Bett, in der Zelle, vor Gudrun, die auf dem Stuhl saß, rittlings gegen die Anwälte.“
Eine rote Linie des Romans bilden zudem ideologische Selbstvergewisserungen und Suchbewegungen, die, vorgenommen „mit Lenin im Kopf“, recht verschiedenartige Einflüsse wie T-Bone Slim, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin, Frantz Fanon und Peter Weiss aufgreifen. Für wichtige Kontrapunkte sorgt das passagenweise Eindenken in Repräsentanten der gegnerischen Seite, zum Beispiel einen US-Nachrichtentechniker oder JVA-Angestellten, der sich „zur Speerspitze, zur Nationalmannschaft der Vollzugsavantgarde“ zählt.
Der Text schließt mit der Schilderung einer Version des Todes der Protagonistin, die vor einigen Jahrzehnten eventuell juristische Konsequenzen nach sich gezogen hätte, mittlerweile aber nicht einmal mehr einer Nomierung für den Bayerischen Buchpreis entgegensteht. Der Umgang mit Daniela Klette und zahlreichen aktuell kriminalisierten Antifaschistinnen und Antifaschisten zeigt jedoch überdeutlich, dass der politische Wind sich in der BRD noch immer zuverlässig nach rechts dreht. „Erzählung zur Sache“ stellt eine literarisch sehr gelungene Aufforderung dar, sich die Interpretation der Geschichte der radikalen Linken in der BRD trotz aller Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Fehlentwicklungen nicht von den Narrativen der Herrschenden diktieren zu lassen, ist doch die Aufgabe, sich „der Vernichtung der Menschen und der Erde“ entgegenzustemmen, drängender denn je.
Stefanie Bart
Erzählung zur Sache
Secession Verlag, 550 Seiten, 28 Euro