Der Kurs der Kommunistischen Partei Chinas unter der Führung von Xi  Jinping ist allgemein bekannt als „Sozialismus chinesischer Prägung“,  häufig verbunden mit dem Begriff der „sozialistischen Marktwirtschaft“.  Hierbei geht es darum, Innovations- und Fortschrittsimpulse für die  chinesische Ökonomie durch die großzügige Zulassung sowohl chinesischer  als auch ausländischer privater Unternehmertätigkeit zu gewinnen. An der  zentralen, führenden Stellung des Gemeineigentums und einer  makroökonomischen Planung wird allerdings festgehalten. Die Erfolge  dieser Orientierung können sich sehen lassen: Lebten 1990 noch 61  Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, so lag die Quote  2016 bei 4 Prozent (Quelle: faz.net).
 Dennoch ist die Wirtschaftspolitik der KPCh gerade in Deutschland stark  umstritten. In weiten Teilen der Linken hierzulande gehört es zum guten  Ton, die Entwicklung in China mit dem Schlagwort „kapitalistische  Restauration“ abzuqualifizieren. Viel weiter geht die Diskussion oft  nicht. Eine tiefer gehende Beschäftigung mit den nationalen  Besonderheiten Chinas und mit der Landesgeschichte scheint so manchem  überflüssig.
 Nun könnte man einwenden, wie es denn möglich ist, dass China im Bereich  der Armutsbekämpfung die genannten großartigen und von den zuständigen  Gremien der UNO als vorbildlich gelobten Fortschritte erzielt, wenn es  sich bei der chinesische Ökonomie doch schlicht um „Kapitalismus“  handelt. Andere (zweifellos kapitalistische) Entwicklungsländer bleiben  hinter dieser Entwicklung zurück. Sollte dies nicht zu denken geben? Der  Gedanke liegt nahe, dass China doch „irgendetwas anders macht“.  Offenbar wird die Bedeutung der nach wie vor gegebenen staatlichen  Wirtschaftslenkung in China von vielen westlichen Beobachtern  unterschätzt. Es ist schwer vorstellbar, dass die erzielten sozialen  Erfolge unter den Bedingungen eines gänzlich freien Marktes zu  realisieren gewesen wären. Der internationale Vergleich ist hier sehr  aussagekräftig.
 Die Volksrepublik China steht vor Aufgaben, die in der  Menschheitsgeschichte ihresgleichen suchen. Insoweit kann sie nicht auf  in der Vergangenheit bereits erprobte Rezepte zurückgreifen. Ganz ohne  Vorbild ist der Kurs der KPCh dennoch nicht. Es ist bereits gelegentlich  in vergleichender Weise auf die Neue Ökonomische Politik (NÖP)  hingewiesen worden, die ab 1921 unter Lenins Führung in der Sowjetunion  praktiziert wurde. Auch hier ging es um die kontrollierte Zulassung von  privatem Kapital, um eine Initialzündung für eine veraltete und  zerstörte Volkswirtschaft zu gewinnen.
 Aber auch die Theorieentwicklung innerhalb der KPCh bot in ihren frühen  Jahren Anknüpfungspunkte für die heutige Orientierung, die allerdings in  der deutschen China-Diskussion wenig Beachtung finden.
 Es ist in diesem Zusammenhang interessant, die Arbeit von Mao Tse Tung  „Über die Neue Demokratie“ aus dem Jahre 1940 zu studieren. Mao geht  hier davon aus, dass China noch in so starkem Maße kolonial und feudal  geprägt ist, dass ein unmittelbarer Übergang zum Sozialismus nicht  vorstellbar ist. Er wendet sich ausführlich den nationalen  Besonderheiten seines Heimatlandes zu und weist bezüglich der  revolutionären Perspektive „linke Phrasendrescherei“ in scharfen Worten  zurück. Mao zufolge muss die chinesische Revolution zunächst eine  demokratische und dann eine sozialistische Phase durchlaufen. Im  unterentwickelten China war bislang keine starke Bourgeoisie  aufgetreten, die, ähnlich wie in Europa, die Aufgaben einer  bürgerlich-demokratischen Revolution hätte lösen können. Diese  „liegengebliebenen“ Aufgaben müssen nun in anderer Weise bewältigt  werden. 1940 sieht Mao die Zeit gekommen für die Errichtung einer „Neuen  Demokratie“, in der die Arbeiterklasse und die Kommunistische Partei  die führende Rolle spielen, aber beruhend auf einem Bündnis aus den vier  revolutionären Klassen Arbeiter, Bauern, Kleinbürgertum und „nationaler  Bourgeoisie“. Der Begriff einer „nationalen Bourgeoisie“ wird eventuell  Irritation hervorrufen. Dazu muss erklärt werden, dass Mao im kolonial  bzw. halbkolonial unterdrückten China die Bourgeoisie gespalten sieht in  einen nationalen Flügel, welcher die Befreiung des Landes von äußerer  Unterdrückung wünscht und in die Kompradoren-Bourgeoisie, welche  ideologisch und existentiell mit den imperialistischen Großmächten  verbunden ist und somit notwendigerweise als Feind der nationalen  Befreiung auftreten muss. Die nationale Bourgeoisie ist hinsichtlich des  Verhältnisses zu den ausländischen Unterdrückern grundsätzlich  revolutionär. Warum spricht Mao aber von „Neuer Demokratie“? Er legt  Wert auf den Unterschied zu demokratischen Revolutionen „alten Typs“,  deren Ergebnis lediglich die Machtkonsolidierung der bürgerlichen Klasse  war. Die neu-demokratische Revolution dagegen ist Bestandteil eines  progressiven Prozesses, welcher im weiteren Verlauf zur sozialistischen  Revolution führt. Interessant sind Maos Ausführungen zur Wirtschaft  unter neu-demokratischen Bedingungen. Die großen Monopole sind in  öffentliches Eigentum zu überführen. Eine allgemeine Enteignung der  Kapitalisten ist aber nicht vorgesehen. Vielmehr soll verhindert werden,  dass Kapitalisten „die Lebenshaltung der Nation kontrollieren“. Es  empfiehlt sich, den Text zur Neuen Demokratie zusammen mit Maos Arbeiten  „Zur Frage der Nationalen Bourgeoisie“ (1948) und „Über die  demokratische Diktatur des Volks“ (1949) zu lesen, wo er seine  Konzeption des zu errichtenden Staates weiter ausführt.
 1949 wurde die Volksrepublik China gegründet. Die Flagge des Staates  zeigt bis heute einen großen, die führende Partei darstellenden Stern  und rechts davon die vier genannten revolutionären Klassen. Allerdings  kündigte sich mit dem Jahr 1952 eine neue Orientierung an hin zur  beschleunigten Entwicklung einer sozialistischen Ökonomie. Es wurden  Modernisierungsvorstellungen vorherrschend, die dem Entwicklungsstand  des Landes nicht angemessen waren und in Gestalt des „Großen Sprungs  nach vorn“ verheerende Ergebnisse zeitigten. 1940 hatte Mao für die  Phase der Neuen Demokratie noch eine „ziemlich lange Zeit“ vorhergesagt.  Betrachtet man die Entwicklung ab 1952, so entsteht der Eindruck einer  voluntaristisch inspirierten Verkürzung notwendiger Entwicklungsstufen,  die letztlich das zurück wirft, was sie voranbringen soll. Übrigens hat  man dem Autor der „Neuen Demokratie“ nach der Veröffentlichung des  Werkes weder Revisionismus noch Verrat am Sozialismus vorgeworfen. Denn  er hatte sich nicht als pedantischer Dogmatiker gezeigt, sondern als  Theoretiker, der den Marxismus-Leninismus auf die Verhältnisse Chinas  anwendet. Durch die Reformpolitik der KPCh ab 1978 haben Mao Tse Tungs  frühe Überlegungen neue Aktualität gewonnen.
Erik Höhne



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