Die Befreiung Vietnams • Teil 4 von 4

Die Ära des Aufstiegs

Marius André Käch

Vor 80 Jahren erhob sich Vietnam mit der Augustrevolution aus der kolonialen Unterdrückung. Seither hat die Sozialistische Republik in der Praxis bewiesen, dass Weltmächte bezwungen und neue Produktivkräfte in den Diensten der werktätigen Klassen geschaffen werden können. Diese Serie aus vier Beiträgen nimmt das Jubiläum zum Anlass, die vietnamesische Sicht auf die eigene Geschichte zugänglich zu machen. Grundlage ist dafür die Analyse, Perspektive und Dokumentation der Kommunistischen Partei Vietnams, die die Revolution und den Aufbau des Landes als Einheit von nationaler Befreiung und sozialistischer Entwicklung begreift. Ziel ist es, die letzten acht Jahrzehnte in ihren Etappen verständlich zu machen und aus marxistisch-leninistischer Perspektive einzuordnen.

Vietnam feiert 80 Jahre Unabhängigkeit – ein Jubiläum, das nicht nur an die Revolution von 1945 erinnert, sondern auch den Beginn einer neuen Epoche markiert. Es ist der Beginn der „Ära des Aufstiegs“ – dem nächsten Schritt auf dem Weg zum Sozialismus.

Mit Massenveranstaltungen nie gesehenen Ausmaßes wird das 80. Jubiläum der Unabhängigkeitserklärung in Vietnam gefeiert. Zahlreiche Museen erlassen die Eintrittspreise, und eine nationale Ausstellung zeigt in Hanoi die Erfolge der Revolution. Bewohner und Parteizellen schmücken Häuser, Apartmentblocks, Straßen und Quartiere mit Fahnen und Plakaten. Es finden Paraden mit international geladenen Gästen, Soldaten, Panzern, Raketenwerfern, Flugzeugen in der Luft, Kriegsschiffen und U-Booten zur See statt. Die Generation Z nennt das scherzhaft „Concert Quốc Gia“, das Konzert der Nation. Von der Jugend inspiriert, finden jetzt Konzerte mit den größten Stars des Landes statt. Vor zehntausenden jungen Menschen werden alte und neue revolutionäre Lieder gesungen, neu interpretiert in Viet-Pop, Rock oder Jazz. Es ist der kollektive Stolz auf eine Revolution, die auch nach Jahrzehnten mit realen Erfolgen in den Herzen der Menschen weiterlebt.

Errungenschaften im Alltag

Trotz größter Schwierigkeiten ist es gelungen, immense Verbesserungen in allen Teilen des Lebens der Menschen zu erreichen. Seit den Reformen wurden über 40 Millionen Menschen aus der Armut befreit, und heute liegt ihre Zahl bei unter 3 Prozent. Der Analphabetismus wurde längst überwunden. Heute können über 95 Prozent der Bevölkerung gut lesen und schreiben. Die Zahl der Studierenden an Hochschulen und Universitäten hat sich mehr als versiebzehnfacht. Jüngst wurden sämtliche Schulgebühren an öffentlichen Institutionen bis einschließlich der Oberstufe abgeschafft, während für Kinder an privaten Bildungseinrichtungen eine Subvention auf gleichem Niveau gewährt wird. Die Lage im Gesundheitssektor hat sich ebenfalls massiv verbessert. Dem Ziel, der gesamten Bevölkerung eine staatliche Krankenkasse zur Verfügung zu stellen, ist man mit über 94 Prozent bereits sehr nahe. Vulnerable Gruppen, etwa Kinder unter 6 Jahren, Bedürftige oder ältere Menschen, erhalten kostenlose Behandlungen. Erste Schritte wurden schon eingeleitet, um die Gesundheitsversorgung für alle in Zukunft kostenlos zu machen. Zahlreiche Initiativen zielen darauf ab, jeder Familie ein Zuhause zuzusichern. Bis 2030 sollen über 1 Million Sozialwohnungen entstehen, während der Gewerkschaftsbund zusätzlich stetig Häuser für Arbeiterfamilien in schwierigen Situationen baut. Auch die Arbeitsbedingungen verbessern sich stetig. Der letzte Kongress des Gewerkschaftsbundes beschloss die 40-Stunden-Woche im Privatsektor als Ziel. Im öffentlichen Sektor gilt die seit jeher.

Neue gesellschaftliche Grundlage

Der Aufbau solcher Errungenschaften basiert auf der rapiden Entwicklung des wirtschaftlichen Unterbaus und dessen sozialer Harmonisierung mit dem Überbau durch die sozialistische Regierung. Aus einem halbfeudalen, halbkolonialen Staat geprägt vom Asiatischen Modus der Produktion hat sich Vietnam heute zu einem der dynamischsten Wirtschaften Asiens entwickelt. Das stetige Wachstum des BIP um 7 Prozent oder mehr sowie die kontinuierliche Industrialisierung und Modernisierung katapultieren das Land in die Zukunft. So erlaubt die Industrialisierung 4.0 Vietnam, Teile der Produktion zu automatisieren und die Planung immer weiter mittels KI zu steuern. Ein anschauliches Beispiel dazu ist Xanh SM, Vietnams hauseigene, rein elektrische Ride-Hailing-Plattform. Die Fahrzeuge werden von Vinfast in Vietnam selbst entwickelt und produziert. Dank der Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette, von der Fertigung bis zur Fahrgastvermittlung, wird Mobilität nicht nur nachhaltiger, sondern auch erschwinglich: Schon für rund 3 US-Dollar lässt sich Hanoi im Elektroauto durchqueren. Mit den neuesten Restrukturierungen im politischen Apparat, die die Digitalisierung und Vereinfachung von Prozessen sowie deren effizientere Kontrolle zum Ziel hat, werden Grundlagen geschaffen für moderne und entwickelte materielle Produktivkräfte für die sozialistische Entwicklung der Gesellschaft.

Herausforderungen

Trotz aller Erfolge muss auch die Ära des Aufstiegs, wie jede Phase der Revolution, sich den Herausforderungen ihrer Zeit stellen. Der Klimawandel ist eine Gefahr für die Menschheit auf globaler Ebene, und Vietnam ist besonders davon betroffen. Das Mekongdelta im Süden des Landes, eines der wichtigsten Agrargebiete der gesamten Nation, ist vom steigenden Meeresspiegel bedroht. Der drückt Salzwasser in das Landesinnere und gefährdet die Produktion gefährdet. Eine weitere Herausforderung: Der private Sektor ist in der aktuellen Entwicklungsphase der wichtigste Motor für die gesellschaftliche Entwicklung und Schaffung von Wohlstand für die breite, arbeitende Masse, doch führt er auch zur Akkumulation von Kapital. Trotz des sozialistischen Systems wird der Klassenwiederspruch in der kommenden Zeit nicht völlig überwunden – er verschärft sich sogar. Dennoch kann sich die Bourgeoisie weder als nationale Klasse organisieren, noch die Politik dominieren. Den Klassenwiderspruch wie die anderen Widersprüche der Entwicklung zu managen und in Richtung Sozialismus zu lenken, wird die große Herausforderung der kommenden Ära sein.

Auf dem Weg zum Sozialismus

Heute haben acht Jahrzehnte Revolution Vietnam aus kolonialer Unterdrückung befreit, die nationale Einheit gefestigt und durch die Reformen von Đổi Mới den Weg in eine neue Entwicklungsphase geöffnet. Heute beginnt die Ära des Aufstiegs. Eine historische Etappe, in der die jahrhundertelange Unterentwicklung überwunden wird und Produktivkräfte in neuer Qualität entstehen. Mit dem Ziel, bis 2030 Entwicklungsland mit moderner Industrie und oberem Mittelschichtstatus und bis 2045 ein entwickeltes, hoch technologisiertes Land mit hohem Einkommen und sozialistischer Orientierung zu werden, verbindet Vietnam Vergangenheit und Zukunft. Auch wenn dieser Teil der Übergangsphase voller Widersprüche ist, bleibt die Republik ihren Idealen treu und verwirklicht den Wunsch von Hồ Chí Minh: „Am Tag des Sieges werden unser Volk und wir das Land wieder aufbauen, würdiger, schöner!“ Die Ära des Aufstiegs ist kein Endpunkt, sondern ein weiterer notwendiger Schritt auf dem langen Weg zum Sozialismus.

Unser Autor kommt aus der Schweiz und lebt in Hanoi.

Teil 3 dieser Serie erschien am 30. September im UZ-Blog.

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