Die Arbeit im Krankenhaus auf einer geriatrischen Station mit ausschließlich älteren bis alten, multimorbiden und oftmals psychisch beeinträchtigten Patientinnen und Patienten ist durchaus nicht unanstrengend. Das liegt an den vielen verschiedenen Krankheitsbildern und dem hohen Pflegeaufwand, die dort Alltag sind. Dennoch ist die Arbeit im geriatrischen Bereich einfach wunderbar und oftmals erhellend.
Vor einigen Tagen drang das lautstarke Rufen einer dementiell stark veränderten und ziemlich aufgeregten 94-jährigen Frau ins Stationszimmer. „Hilfe!“, rief sie. „Hilfe! Die Russen kommen!“ Eine Kollegin mit russischen Wurzeln versuchte, sie durch gutes Zureden zu beruhigen. „Aber nein, Frau S., so etwas sagen wir heute nicht mehr.“ Schön wär’s. Genau genommen sieht die Realität andersherum aus: Das ideologische Argumentationsniveau der imperialistischen Staaten, der NATO-Elite und der Bundesregierung liegt offenkundig seit über drei Jahren auf dem Level einer demenzerkrankten alten Frau. Alles, was um uns herum an reaktionär-militaristischem Staatsumbau geschieht, steht und fällt mit der Prämisse, „der Russe“ müsse militärisch aufgehalten werden, sonst stehe er bald in Lissabon.
Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, forderte kürzlich einen Pflichtdienst für Rentner im Sozialbereich, aber auch bei der Verteidigung. Die Diskussion um die Wiedereinführung der Wehrpflicht verenge sich häufig auf die jungen Generationen, beklagte er. Anmeldungen zum Volkssturm nehmen das DIW oder Herr Fratzscher persönlich ab sofort entgegen.
Doch der Ökonom wurde noch konkreter: Der Generation der Älteren, also derjenigen mit realer Kriegserfahrung oder dem Bewusstsein, aus 87 Millionen Weltkriegstoten antimilitaristische Lehren ziehen zu wollen, wirft er „Ignoranz, Selbstbezogenheit und Naivität“ vor. Und weiter: „So haben wir nach dem Ende des Kalten Kriegs gedacht, wir müssten uns nie mehr verteidigen – und die Friedensdividende verfrühstückt. Deshalb müssen wir jetzt über 5 Prozent Verteidigungsausgaben reden.“
Diese Erzählung von der äußeren Bedrohung, gegen die „wir“ uns verteidigen müssen, ist so alt und unkreativ wie bedrohlich. Ab wie viel Uhr wird wohl diesmal zurückgeschossen? Das ist inzwischen eine berechtigte Frage. Einen Anlass fand ein hochgerüsteter deutscher Imperialismus bisher immer, ob es nun der Sender Gleiwitz, erfundene KZ auf dem Balkan oder tote Thronfolger waren. Entscheidend für uns ist es, ihm seine Lügen, Vorwände, Feigenblätter und ideologischen Verrenkungen nicht durchgehen zu lassen – oder sie zumindest nicht unwidersprochen zu lassen. Deshalb wiegt es besonders schwer, wenn auch die Vorsitzenden der Linkspartei in ihren Sommerinterviews in die gleiche ideologische Kerbe schlagen. Das gilt auch für die selbsternannte „Chef-Friedenstaube“ van Aken. Okay, es könnte die Frage gestellt werden: was ist auch von jemandem zu erwarten, der im gleichen Interview kapitalistische Ausbeutung als „Arbeit, die eben besonders stressig ist, zum Beispiel an der Aldi-Kasse in Berlin-Neukölln“, definiert? Was soll denn das? Heißt das, wenn mein Dienst gerade mal nicht hammerstressig ist, dann werde ich im Kapitalismus nicht ausgebeutet? Ausbeutung ist doch keine Gefühlskategorie!
Um fair zu bleiben: die Fragen des Interviews waren noch um einiges schlimmer als die Antworten. Es übersteigt offenkundig den Vorstellungshorizont der ARD, dass die Abschaffung von Milliardären – wenn schon nicht im Stil der französischen Revolution, sondern ganz klassisch durch Enteignung – eine sinnvolle Umverteilung für das Gemeinwohl wäre? Die größte Sorge scheint: Wenn Milliardäre abgeschafft werden sollen, dann flüchten sie doch ins Ausland. Sollen sie doch! Aber ihre, durch unsere Ausbeutung (!) angehäuften, Milliarden bleiben hier! Das gilt nicht nur, aber ganz besonders für all die neuen und alten Rüstungsmilliardäre.