Vor siebzig Jahren putschte das Militär gegen Juan Domingo Perón

Die weite Klammer des Peronismus

Am 16. Juni 1955 putschte das Militär gegen Argentiniens Präsidenten Juan Domingo Perón. Streiks von Arbeitern erreichten seine Freilassung, aber drei Monate später wurde Perón endgültig vom Militär gestürzt; Hintergrund waren Differenzen mit der Katholischen Kirche und imperialistische Inte­ressen der USA. Erst im Juni 1973 kam Perón aus dem spanischen Exil zurück und wurde zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt; er starb im Amt am 1. Juli 1974. Bei vier Spielen der Fußball-WM in der BRD wurden Schweigeminuten abgehalten, natürlich auch beim Spiel Argentiniens gegen die DDR.

Ein ausländischer Journalist kommt am Flughafen Ezeiza in Buenos Aires an und nimmt ein Taxi. Weil er für seinen ersten Besuch im Land politische Information braucht und Taxifahrer in der Regel viele Blicke in die Gesellschaft vermitteln, fragt er ihn nach den politischen Parteien in Argentinien. „Ach, wir haben viele. Da gibt es zum Beispiel die Front des Siegs, die Radikale Bürgerunion, die Kommunistische Partei, die Christdemokraten, die Große Front, die Justizialistische Partei, die Sozialistische Partei, die Unbeugsamen …“ „Ja, aber in Europa reden immer alle von den Peronisten. Gibt es denn keine peronistische Partei?“ „Ach so. Nein, peronistisch sind sie alle!“

Ein in Argentinien geläufiger Witz, um das scheinbar Unerklärliche – das Phänomen des Peronismus, also die allseitige Bezugnahme auf Juan Domingo Perón – zu erklären. In der Tat findet man den politischen Peronismus von links bis rechts und von oben nach unten. Peronisten sind in der Kommunistischen Partei Argentiniens vertreten, genauso wie dort Gegner des Peronismus organisiert sind. Der neoliberale Präsident Carlos Menem war Peronist, der linksliberale Präsident Kirchner war Peronist wie auch seine Frau und Nachfolgerin im Amt, Cristina Fernández, Peronistin ist. Papst Franziskus war Peronist, Diego Maradona war Peronist. Der aktuelle Staatschef Javier Milei greift den Linksperonismus Kirchners als „Populismus“ an, stützt sich aber politisch auf den Rechtsperonismus Menems, dem er eine Büste im Präsidentenpalast „Casa Rosada“ errichten ließ. Ein Neffe Menems ist Vorsitzender des argentinischen Abgeordnetenhauses für die Milei-Partei „La Libertad Avanza“ (etwa: „Die Freiheit schreitet voran“). Und für Peronisten ist völlig klar, dass auch Tangokönig Carlos Gardel Peronist geworden wäre – wäre er nicht schon acht Jahre, bevor Perón in die Politik eintrat, ums Leben gekommen.

Wer außer Kirchenleuten und rechten Militärs hätte sich nicht mit seiner sich auf nichts definitiv festlegenden, pragmatisch volksnahen Politik identifizieren können? Es handelt sich mehr um ein gesellschaftliches Phänomen denn um eine Ideologie. Der Peronismus legt eine weite Klammer, die genauso Sozialpolitik wie Neoliberalismus reinsten Wassers umfasst. Nie ging es den Gewerkschaften besser als unter Perón; gleichzeitig fanden deutsche Kriegsverbrecher in seinem Argentinien eine sichere Zuflucht.

Juan Domingo Perón lebte von Oktober 1895 bis Juli 1974. 1911 trat er in die Infanterie ein; dort galt seine Sympathie den Militärs, die wie er die soziale Situation im Land kritisierten und die blutige Niederschlagung der Arbeiterbewegung im Januar 1919 (bekannt als „Semana Trágica“ – Tragische Woche) verurteilten. Seine Karriere, unter anderem als Militärattaché, führte ihn 1936 in den Heeresgeneralstab. Zwischen 1939 und 1941 verbrachte er zwei Jahre in militärischer Weiterbildung in Italien, wobei er in dieser Zeit unter anderem Deutschland, Frankreich, Jugoslawien und die UdSSR besuchte. Er gehörte in der Folge zu der patriotisch gesinnten „Gruppe Vereinter Offiziere“ (GOU), die im Dezember 1943 einen Aufstand durchführte, in dessen Folge Perón zunächst Arbeitsminister und sieben Monate später für ein gutes Jahr zum Vizepräsidenten wurde. Von seiner Vizepräsidentschaft ab Juli 1944, in der er das Tarifvertragsrecht einführte und erstmals die Landarbeit dem Arbeitsrecht zuordnete, stürzten ihn Militärs im Oktober 1945. Doch schon am 17. Oktober 1945 brachte ihn ein gewaltiger Unterstützungsstreik der Arbeiterschaft nach einigen Tagen Gefangenschaft wieder in Freiheit. Seine steile politische Karriere begann, begünstigt auch durch seine Heirat mit der Schauspielerin María Eva Duarte, die bis zu ihrem frühen Tod 1952 Garantin für eine enge Beziehung zwischen Perón und den argentinischen Gewerkschaften war. „Ewig im Herzen des Volkes“ heißt es auf einer Tafel am Friedhof „La Recoleta“ in Buenos Aires, wo Evita täglich frische Blumen bekommt – so wie Gardels Büste auf dem Friedhof „La Chacarita“ immer aufs Neue von irgendjemandem eine brennende Zigarette in die Hand gesteckt bekommt. Das ist ein Argentinien.

Perón gewann die Präsidentschaftswahlen 1946 und 1951; letztere waren die ersten mit Frauenwahlrecht, nachdem die Verfassung 1949 entsprechend geändert worden war. 1951 steigerte er sich dabei von 53,7 auf 63,5 Prozent. Ende 1946 hatte Domingo Perón drei Parteien, die ihn bei den Wahlen unterstützt hatten, zur „Peronistischen Partei“ zusammengeschlossen, die heute offiziell „Partido Justicialista“ (PJ, in etwa: Gerechtigkeitspartei) heißt; heute dürfen Parteien nicht mehr nach Personen benannt werden. Wirtschaftlich verfolgte er einen nationalistisch-patriotischen Kurs auf Durchsetzung einer eigenständigen argentinischen Textil- und Stahlindustrie, ein eigenes Transportwesen und ein Außenhandelsmonopol, womit er innenpolitisch die Gewerkschaften auf seine Seite brachte; weite Teile der Gesellschaft unterstützten diesen Kurs, der die unteren und mittleren Schichten sichtbar am Wohlstand beteiligte. Außenpolitisch grenzte er sich dabei von der UdSSR ab, nahm deutsche Faschisten bereitwillig auf und changierte zwischen Antikommunismus und einer von den USA eigenständigen Position. Nicht zufällig bekam er 1955 im franquistischen Spanien Asyl.

So fand Perón seine Hauptgegner im heimischen Militär, den imperialistischen USA und der reaktionären Kirche. Der erste Putsch durch Heeresgeneral Benjamín Menéndez gegen ihn scheiterte 1951 in Córdoba in kurzer Zeit. Wie sich Hass durch Familien hält, zeigte sich zwanzig Jahre später, als 1976 der blutigste Militärputsch gegen die bürgerliche Demokratie geführt wurde und sieben Jahre und 30.000 Ermordete später zu Ende ging: Zwei Neffen von Menéndez, ebenfalls Militärs, wurden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Ende der letzten Diktatur 1983 verurteilt. Ein anderes Argentinien.

Im Juni 1955 bombardierten vor allem Seestreitkräfte die Plaza de Mayo vor dem Präsidentenpalast; 380 Menschen starben, fast tausend wurden verletzt. Das Wirtschaftsministerium zeigt an seiner Fassade bis heute einige Einschusslöcher. Eine starke Arbeiterbewegung brachte Perón zurück ins Amt, aber schon im September erfolgte der nächste Staatsstreich in Córdoba, der den Präsidenten endgültig stürzte; der Gewerkschaftsdachverband CGT hatte vergeblich um Bewaffnung der Arbeiter gebeten. Entscheidend für den Erfolg des Staatsstreichs gegen Perón war die Armada, die mit der Bombardierung von Mar del Plata und Buenos Aires drohte, würde der Präsident nicht zurücktreten. Teile des Heeres erwiesen sich als verfassungstreu und griffen im Juni 1956 mit einem Gegenputsch gegen die Befehlshaber von Heer und Flotte, General Aramburu und Admiral Rojas, ein, scheiterten aber. Oberst Juan José Valle, den man als Führer des Aufstands standrechtlich erschoss, wurde 1973 von Perón post mortem zum General erhoben.

Für die Kommunistische Partei Argentiniens war das Verhältnis zu Perón so kompliziert wie flexibel. 1946 kandidierte sie in der „Demokratischen Union“ gegen Perón, den man aufgrund seiner Nähe zu den europäischen Faschisten verständlicherweise als örtliche Version Hitlers oder Mussolinis ansah. Hinzu kam, dass die PCA durch die Regierung verfolgt wurde, weshalb sie den Putsch von 1955 trotz ihrer Einschätzung der Verbesserung der Lage der arbeitenden Schichten begrüßte; Jahre später wurde das als Fehler eingeschätzt. In Peróns dritter Präsidentschaft ab 1973 war dann der Kommunist José Ber Gelbard Wirtschaftsminister. Aber José López Rega, intellektueller Kopf der protofaschistischen „Argentinischen Antikommunistischen Allianz“, die Attentate auf linke Peronisten wie die „Montoneros“ und auf Revolutionäre verübte, war gleichzeitig Sozialminister. Peróns ­Argentinien.

Mit dem Putsch 1955 erreichten die dem Imperialismus verbundenen Streitkräfte einen gesellschaftlich dominanten Rang, den sie erst 1983 wieder verloren. Auch wurde die in der 49er-Verfassung garantierte Gleichstellung von Frau und Mann wieder aufgehoben und erst dreißig Jahre später wieder eingeführt. Ebenfalls verboten die Putschisten die damalige Peronistische Partei. Heute ist die Partido Justicialista international in der Christlich-Demokratischen Internationale organisiert, einem vorwiegend konservativen Zusammenschluss von weltweit mehr als 90 Parteien. Auf den ersten Blick erstaunlich, wenn man bedenkt, dass der Putsch gegen Perón vor 70 Jahren wesentlich von der Kirche vorangetrieben wurde. Die Katholische Kirche war spätestens seit der Ausweisung des apostolischen Nuntius Luis Mattera, des päpstlichen Botschafters, im Jahr 1884 mit den liberalen Strömungen der argentinischen Politik überkreuz, die das Land nach der Unabhängigkeit aufgebaut hatten. Da auch die GOU gegen den Liberalismus auftrat, weil sich dieser bei rechten Militärs in einer anglophilen Haltung äußerte, hatten Peróns Militärs in den 40er Jahren zunächst noch die Sympathie der Kirche. Gegen die Bestrebungen, das Land eigenständig zu industrialisieren, trat sie noch nicht auf, aber die Gesetze, die eine zivilrechtliche Scheidung ermöglichten und die Kirche aus der Schulbildung entfernten, brachten eine Wende. Kirche und Oligarchie fanden alsbald gegen Peróns wirtschaftliche und politische Linie zusammen, die ihnen massiv Rechte und Macht beschneiden würde.

Denn diese Politik kam unten an: Das Bruttoinlandsprodukt war zwischen Arbeit und Kapital gleichmäßig verteilt; das vom Weltkrieg unberührte Argentinien gehörte Anfang der 50er Jahre zu den wohlhabendsten Ländern der Erde und war zeitweilig Kreditgeber für Britannien, die BRD, Spanien und Italien. Durch die Importsubstitution und das Außenhandelsmonopol des Staates hatte sich eine Industriebourgeoisie bilden können, die dem patriotischen Projekt einiges abgewinnen konnte. Aber eine Folge des Marshallplans war, dass der Absatzmarkt Westeuropa für seine Erzeugnisse abgeschnitten wurde, und Argentinien geriet 1955 in eine leichte Wirtschaftskrise, zumal sich parallel der Binnenmarkt gesättigt hatte. Perón setzte nach der misslungenen Erhebung vom Juni auf Zeitgewinn statt auf einen angesichts der Kräfteverhältnisse durchaus gewinnbaren Bürgerkrieg. Die USA und Britannien unterstützten die 1955er-Putsche gegen ein aufstrebendes Land und damit gegen eine internationale Konkurrenz; der Schlag gegen das aufstrebende Volk, den Klassengegner, kam von der lokalen Oligarchie im Bund mit der Kirche. Juan Domingo Peróns Sturz empfand das Volk zu Recht als seine eigene Niederlage.

Argentinien trat als Folge der Ereignisse 1956 in den Internationalen Währungsfonds ein – mit den seit spätestens 2001 bekannten Ergebnissen. Heute ist das Land mit über 52 Milliarden US-Dollar Krediten der IWF-abhängigste Staat der Welt; die Gesamtauslandsschuld liegt bei 75 Milliarden, wobei seit 2018 allein 12 Milliarden Zinsen zu zahlen waren. Die Krise ist hausgemacht: Argentinien wurde unter Carlos Menem (1989 bis 1999) fast völlig deindustrialisiert. Javier Milei ist heute auch Ausdruck einer vom neoliberalen Kapitalismus demoralisierten und politisch entwaffneten Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und natürlich der Schwäche der Linken weltweit. Mit seiner angeblich unideologischen Politik des Kahlschlags kopiert er die Nicht-Ideologie Peróns, um damit die Reichen reicher und die Armen ärmer zu machen.

Mit Perón das gerade Gegenteil von Perón – niemand sollte glauben, den Peronismus abschließend in eine Schublade verfrachten zu können. Er ist die Geschichte Argentiniens der letzten achtzig Jahre. Und der nächsten Jahrzehnte.

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"Die weite Klammer des Peronismus", UZ vom 13. Juni 2025



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