Warum man das Schlemmen nicht der Bourgeoisie überlassen darf

Eine weihnachtliche Legende

Wenn im Advent der Duft von frischem Stollen durch die Häuser zieht, dann ist das für viele mehr als nur ein kulinarisches Vergnügen – es ist ein Stück gelebte Tradition, ein Echo aus vergangenen Kindheitstagen. Gern wird vom „Geschmack des Jahrhunderts“ gesprochen und wer einmal einen echten Weihnachtsstollen probiert hat, kommt davon kaum wieder los. Die Bäcker schwören auf ihre regionalen Kreationen und verteidigen ihre Rezepturen oft mit einer Leidenschaft, die ihresgleichen sucht. Über Geschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten, doch eines steht fest: Er ist nicht angeboren, sondern eine Frage der Erziehung.

So war es auch für mich ein winterlicher Höhepunkt, wenn ich als Kind gemeinsam mit meiner Großmutter auf dem Schlitten die Zutaten zum Bäcker brachte. Wenige Tage später wurde auf demselben Schlitten der fertige Stollen nach Hause transportiert, um dann auf dem „Schlafstubenschrank“ bis zum feierlichen Anschnitt am Weihnachtsabend zu ruhen. Diese Vorfreude, gespeist vom Duft und der Aussicht auf das köstliche Gebäck, prägte meine Kindheit und macht bis heute den Reiz des Stollens aus.

Kolume Schoetzel - Eine weihnachtliche Legende - Stollen, Warum man das Schlemmen nicht der Bourgeoisie überlassen darf, Weihnachten - Die letzte Seite

Der Stollen ist nicht bloß ein Kuchen, vielmehr eine weihnachtliche Legende, deren Ursprünge bis zu keltischen Opferbroten zurückreichen sollen. Seinen Namen verdankt er wohl dem althochdeutschen „Stollo“, was so viel wie „Pfosten“ bedeutet. Ursprünglich als Fastengebäck mit Mehl, Hefe, Wasser und Rapsöl wenig aufregend, wurde der Stollen erst mit Zugaben wie Butter und süßen Zutaten zu dem, was wir heute schätzen. Doch diese Leckereien waren zur Fastenzeit tabu – ein Umstand, den die sauf- und fresslustigen Klosterbrüder mit kreativen Erweiterungen der Rezeptur zu umgehen wussten, ganz nach dem Motto: „Öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken.“

Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Dresdner Christstollen 1474 auf einer Krankenhausabrechnung. Von da an entwickelte sich das Gebäck weiter, wurde reichhaltiger und schließlich zum Symbol weihnachtlicher Festlichkeit. Die berühmte Episode vom „Butterbrief“ – einem Gesuch der sächsischen Kurfürsten an Papst Innozenz VIII., Butter statt Öl verwenden zu dürfen, was gegen eine finanzielle Beteiligung am Freiberger Dombau gewährt wurde – zeigt, wie eng Genuss und Geschichte verbunden sind. Im Sommer 1730 ließ August der Starke auf seinem Zeithainer Lustlager einen gigantischen Stollen von 1,8 Tonnen und sieben Metern Länge backen, für den unglaubliche Mengen an Zutaten verarbeitet wurden. Der Genuss von Stollen war lange eine Frage des sozialen Standes: Wer Rang und Namen hatte, konnte sich einen der edlen Stollen leisten. Wenn man der Legende Glauben schenkt, wurde in der Stadt Torgau 1457 erstmals der Stollen für jedermann gebacken, ein Schritt, der zur Verbreitung des Stollens in allen Schichten beitrug. In den traditionellen sächsischen Stollen gehören Butter, Weizenmehl, Hefe, Zucker, Zitronat, Orangeat, Sultaninen und Puderzucker. Jede Bäckerei bewahrt ihr eigenes Gewürzgeheimnis, und Dresdner müssen ihn sogar einer Prüfung unterziehen, um ein begehrtes Stollensiegel zu erhalten. Nur die mit dem Siegel sind die echten, also Augen auf beim Einkauf! Im Jahr 2018 wurden über 4,6 Millionen Dresdner Christstollen verkauft und seit 2010 sind die Begriffe „Dresdner Stollen“, „Dresdner Christstollen“ und „Dresdner Weihnachtsstollen“ als geschützte geografische Marken eingetragen.

Heute ist der Stollen ein absolutes Muss zur Weihnachtszeit und fehlt auf kaum einer Kaffeetafel. Und während in meiner Kindheit der Stollen meiner Oma erst am 24. Dezember angeschnitten wurde – und ich mich bis dahin nur am Duft in der „Schlafstube“ berauschen konnte –, beginnt heute die Industrie längst schon ab September mit der Stollenflut in den Supermärkten. Umso schöner ist es, wenn man sich den Stollen kurz vor Weihnachten vom Bäckermeister seiner Wahl – zum Beispiel vom Bäckermeister Schürer aus Morgenröthe-Rautenkranz im Erzgebirge, dem Geburtsort unseres Fliegerkosmonauten Sigmund Jähn – per Postpaket schicken lässt. Wenn dann beim Auspacken der Duft wie damals in der Kindheit durch das Haus zieht, ist Weihnachten da, und das mit Brief und Siegel. Also dann, genussvolle Feiertage!

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"Eine weihnachtliche Legende", UZ vom 12. Dezember 2025



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