Das hat das Bundesamt für Verfassungsschutz (VS) nicht verdient. In den Bestsellerlisten des deutschen Buchhandels für die Sparte „Fantasy and Fiction“ findet der geneigte Leser zwar genug überteuerte Neuauflagen der Klassiker wie „Der Herr der Ringe“ oder die Vorlage von „Game of Thrones“, den für lau herunterladbaren „Verfassungsschutzbericht 2024“ sucht man dort aber vergeblich.
Bereits das vom Bundesminister des Innern Alexander Dobrindt (CSU) höchstselbst verfasste Vorwort lässt den Spannungsbogen der auf den folgenden 410 Seiten dargebotenen Geschichten von Bedrohung, Gefahren und einem Deutschland in einem Meer von Feinden vor den Augen des Lesers plastisch werden. Da ist das böse Russland, das kaltschnäuzig nicht zurückschreckt, sogar „ungeschulte Einzeltäter (,Low-Level-Agenten’) anzuwerben, um zu spionieren und zu sabotieren“. Und dazu stoßen zu allem Überfluss noch die Chinesen, die allüberall „Spionage und andere Formen unerwünschten Wissenstransfers“ forcieren. Ja genau, bei den technologisch total rückständigen Chinesen stehen „Erkenntnisse zu Struktur, Bewaffnung und Ausbildung der Bundeswehr (…) ebenso im Interesse (…) wie die Beschaffung moderner Waffentechnik aus der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“. Und die machen das noch nicht mal verdeckt, sondern offen per „Gesprächsabschöpfung“ im Kontakt mit „Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft“.
Ereignisse im Ausland wie der Krieg in der Ukraine oder die Kriegsverbrechen der israelischen Armee machen es im Inneren immer schwieriger, dem deutschen Bürger einen klaren Kompass zu vermitteln. Linksextremisten erdreisteten sich im vergangenen Jahr, „die Situation im Nahen Osten“ zum „Schwerpunkt ihrer Agitation“ zu machen. Und wie die auf „38.000 Personen angewachsenen“ Beobachtungsobjekte das machen, verrät der Innenmister auch schon im Vorspann: „Linksextremisten fungierten als Scharfmacher und Mobilisierungstreiber.“
Im Hauptteil allerdings muss sich der Leser erst einmal durch langatmige Passagen quälen, in denen die deutschen Westentaschen-McCarthys erklären, warum sie sich selbst für unverzichtbar halten. Nicht wirklich neu ist die über viele Seiten ventilierte Erkenntnis, die Aufgabe des Dienstes, der am 7. November dieses Jahres seinen 75. Geburtstag feiern wird, erschöpfe „sich nicht in der Sammlung und Auswertung von Informationen als Selbstzweck, sondern ist erst mit der Weitergabe der analytisch aufbereiteten Erkenntnisse erfüllt“. In der Tat hat der VS im laufenden Jahr schon unter Beweis gestellt, wie analytisch anspruchsvoll es ist, auf über 1.000 Seiten abgeschriebenes AfD-Gerede aus Zeitungsschnipseln und Facebookseiten zusammenzukleben und es dann als Geheimdokument erster Güte der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Zum Abschluss des ersten Kapitels gewahrt der Fantasy-Liebhaber eher Ungewöhnliches. Als ob die 7.600 Mitarbeiter des VS in Bund und Ländern und das Sponsoring durch die Bundesregierung in Höhe von mehr als einer halben Milliarde Euro nicht schon genug wären, folgt ein Werbeblock in eigener Sache „als sinnstiftender und zukunftsorientierter Arbeitgeber“. Schnüffeln, Beobachten, Abhören, Schränke durchwühlen in Vollzeit. Immerhin haben die Autoren des Berichts auch neue Arbeitsfelder ausgemacht, die es kurzfristig auszuleuchten gilt: „Zwischen antiimperialistischen und dogmatischen deutschen Linksextremisten, säkularen propalästinensischen Extremisten und türkischen Linksextremisten bestehen verschiedene Vernetzungen“. Da wird die Staatsräson „delegitimiert“. Lobenswert ist die Weitsicht der Autoren. Zum Zeitpunkt der Drucklegung konnten sie noch nichts vom aktuellen völkerrechtswidrigen Angriff Israels auf den Iran wissen, ahnten aber schon: „Solange der Nahostkonflikt politisch und medial präsent ist, werden Linksextremisten diesen als Vehikel für ihre eigenen Botschaften und Absichten instrumentalisieren“.
In früheren Jahresberichten nur tangiert, bekommt die Erzählung von der „Delegitimation des Staates“ nun ein eigenes Kapitel. Hier darf sich jeder kritisch-bürgerliche Geist in unserer Republik literarisch wertgeschätzt sehen, denn die „Delegitimierung erfolgt oft nicht über eine offene Ablehnung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Verächtlichmachung von und Agitation gegen demokratisch legitimierte Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates“. Vorsicht also bei Forderungen „nach einer ‚Aufarbeitung‘ der Coronapandemie“, Kritik an „staatlichen Klimaschutzmaßnahmen“, Zweifeln am „russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ oder gar der völlig absurden These von der „Gefahr einer staatlichen Totalüberwachung der Bevölkerung“.
Wie leider im ganzen Bericht wird die Erwartung der Leserschaft, wenigstens mal ein Beispiel für diese dunklen Mächte vorgeführt zu bekommen, bitter enttäuscht. Im Grundsatzkapitel zum grassierenden Linksextremismus fordern die Marxismus-Kenner im VS ihr Recht und überraschen mit der These, „Wirtschaftsunternehmen gelten Linksextremisten als tragende Säulen des ‚ausbeuterischen kapitalistischen Systems‘. Allein aus diesem Grund ist nahezu jedes größere Unternehmen abstrakt gefährdet“. Denn „neben Protesten und Blockaden verüben Linksextremisten regelmäßig Straftaten gegen technische Einrichtungen, Fahrzeuge, Maschinen oder Infrastruktur von Unternehmen“. Kann man tatsächlich jeden Tag in der Zeitung lesen, oder? Gute Fiktion basiert eben auf dem „Illusory Truth Effect“, durch Wiederholung werden auch Lügen wahr, meint man jedenfalls in Köln.