Luki will nicht heiraten. Sie will weiterhin jagen gehen und damit zur Ernährung ihres Dorfes beitragen. Doch das darf sie nur im Geheimen, ihr Freund Samkad muss die Beute als seine ausgeben. Jagen ist schließlich keine Aufgabe für Frauen. Doch Luki hat die Nase voll. Voll vom Dungstampfen, von der Arbeit auf den Reisfeldern, von der Frauenhütte, in der sie leben muss, seit ihre Mutter gestorben ist, und von den Konventionen, die sie einengen. Da taucht in ihrem Dorf ein US-Amerikaner auf, der die Bewohner ihres Dorfes davon zu überzeugen versucht, ein in Lukis Ohren unglaubliches Angebot anzunehmen. Roosevelt habe sie eingeladen, an der Weltausstellung in den USA teilzunehmen.
Candy Gourlays Roman „Wild Song“ erzählt von der Weltaustellung in St. Louis, insbesondere von den sogenannten „Völkerschauen“. Diese rassistischen Menschenzoos waren zwischen 1875 und 1930 in den USA und Europa eine profitreiche Rechtfertigung des Kolonialismus – deutscher Vorreiter dieser Form der Sklaverei war Hagenbeck.
In St. Louis sollte ein Menschenzoo der Superlative das Publikum begeistern – für mehr als 2.000 Indigene wurden Kulissen aufgestellt, in denen sie – möglichst publikumswirksam – agieren sollten. Allein 1.100 von ihnen kamen von den Philippinen. Dort hatte der US-amerikanische Kolonialismus gnadenlos gewütet. Zwischen 1899 und 1902 starben im sogenannten Philippinisch-Amerikanischen Krieg zwischen 200.000 und eine Million Zivilisten. 1904 nun sollten „die Wilden“ in St. Louis ausgestellt werden.
„Wild Song“ erzählt die Geschichte der Weltausstellung aus der Perspektive des Teenagers Luki. Sie ist Feuer und Flamme, als sie von der „Einladung Roosevelts“ hört. Endlich raus aus der einengenden Dorfgemeinschaft, endlich was anderes als Heiraten und Kinderkriegen. Doch schnell wird sie mit der Realität konfrontiert: In Manila angekommen, ist sie Rassismus ausgesetzt, denn sie ist eine Igorot, aus den Bergen, verachtet in anderen Teilen der Philippinen. Es ist der erste von vielen Momenten, in denen Luki Rassismus erfahren wird.
Gourly bleibt in ihrer Erzählung stets in der Sicht der jungen Luki. Warum in Manila vor allem Spanisch gesprochen wird, was die US-Amerikaner getan haben, außer in ihrem Dorf eine Schule zu installieren, all das müssen sich die jungen Leserinnen und Leser in diesem Buch ab 14 selbst erschließen. Einmal passieren sie ein niedergebranntes Dorf, der US-amerikanische Menschenhändler, der die Gruppe nach Manila führt, empört sich maßlos über eine philippinische Fahne – mehr Hinweise gibt es nicht.
Aber es reicht. Genauso wie die Schilderungen ihrer Erlebnisse auf der Weltausstellung. Die Bedingungen sind teilweise unerträglich, Mitglieder von Lukis Gruppe sterben, Beerdigungsriten sind nicht gestattet. Dafür muss das „Leben“ in der Völkerschau möglichst spektakulär gestaltet werden – der Menschenhändler fürchtet um seine Einnahmen. Und so beschließt eine Mehrheit der Gruppe, dem Publikum rituelle Festessen zu präsentieren, in denen Hunde das Hauptgericht sind. Der Weiße will sich schließlich gruseln.
In dieser menschenverachtenden Umgebung versucht Luki erwachsen zu werden. Sie trägt die Verantwortung für die kleine Schwester einer Freundin, versucht, ihre Beziehung zu Samkad zu klären und vor allem sich selbst zu finden. Dabei erlebt sie immer wieder Rückschläge, denn sie muss erleben, dass sie immer wieder auf ihre Herkunft reduziert wird, wenn sie sich nicht gefällig verhält. Die Wilde soll dankbar sein.
Candy Gourlay ist ein leises, aber nicht minder eindrückliches Buch über ein menschenverachtendes Thema gelungen. Die Rechtfertigungsshows für den Kolonialismus erlebt die Protagonistin zuerst als Abenteuer, dann als erniedrigende Ausbeutung, jedoch ohne dabei die Lust am Leben zu verlieren. „Wild Song“ bietet für junge Leserinnen und Leser einen guten Einstieg in das schwierige Thema Kolonialismus, das noch lange nicht vom Tisch ist. Nur braucht man heute zur Rechtfertigung keine Menschenzoos mehr.
Candy Gourlay
Wild Song
Ab 14 Jahren
RotFuchs, 317 Seiten, 19,90 Euro



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