Marx, Engels und Lenin lesen geht noch. Die Erkenntnisse in die Tat umzusetzen, ist verboten

Kapitalismus unter Artenschutz

Unter Vorsitz von Richter Klaus Thorwarth hat die 17. Kammer des Verwaltungsgerichts Hamburg durch Urteil vom 10. Juli über eine Klage des „Vereins Marxistische Abendschule Hamburg“ (MASCH) gegen den Hamburger Verfassungsschutz (VS) entschieden. Am Ende einer über drei Jahre ausgetragenen Auseinandersetzung kann die MASCH Hamburg einen Teilerfolg verbuchen. Der VS darf im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 nicht mehr verbreiten, die MASCH verfolge verfassungsfeindliche Aktivitäten. Es steht nicht zu erwarten, dass der Hamburger VS Antrag auf Berufungszulassung stellt.

Die Verurteilung bleibt allerdings weit hinter dem ursprünglichen Klagebegehren der 1981 gegründeten und seit 1997 regelmäßig im Verfassungsschutzbericht genannten MASCH zurück. Gegenstand der Klage vom 14. Juni 2025 war ursprünglich, die Einträge in den Berichten der Jahre 2018, 2019, 2020 und 2021 zu löschen und auch zukünftig keine Einträge mehr vorzunehmen. Aus vermutlich prozesstaktischen Erwägungen verfolgte die MASCH nach der mündlichen Verhandlung am 8. April lediglich noch die Löschung für 2021.

Die Genugtuung über den errungenen Erfolg ist erheblich getrübt. Abgesehen von der urteilseigenen Exegese über eine mögliche Kontaktschuld der MASCH durch Berührungen mit der DKP, „die politische Ziele verfolgt, welche mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung (FDGO) im Sinne des Grundgesetzes nicht vereinbar sind“, lässt es sich das Verwaltungsgericht nicht nehmen, in einem Aufwasch auch gleich Marx, Engels, Lenin und den Sozialismus als „unvereinbar“ mit den „Prinzipien der FDGO“ in die Verfassungsfeinde-Schublade einzuordnen.

Rechtsanwalt Rivdan Ciftci, der die Klage der MASCH vertrat, schätzt dies so ein: „Jeder Verein, der sich hauptsächlich auf Marx bezieht, kann damit Beobachtungsobjekt werden.“ Das linke Freiburger „Radio Dreyeckland“ sendet „Aufgepasst: ‚Wer Marx liest, ist verdächtig‘“. In der „taz“ vom 9. August ist vom „Pyrrhussieg“ der MASCH zu lesen. Das trifft alles zu, ist aber nicht neu und gehört zum Traditionsbestand deutscher Verwaltungs- und Verfassungsrechtsprechung seit Anbeginn dieser Republik.

Die Textbausteine sind dabei immer gleich: Allenfalls die „akademische Auseinandersetzung mit der Thematik des Marxismus und seiner ökonomischen, historischen und gesamtgesellschaftlichen Bedeutung“ (VG Hamburg) am besten im stillen Studierzimmer ist verfassungsrechtlich noch unbedenklich. Verlässt die Theorie den Denkapparat und wird gar zur Handlungsanleitung, beginnt es gefährlich zu werden. Organisiert die Idee Menschen, ist der grundgesetzliche Zenit des noch Erlaubten überschritten. Dann kostet es den Beruf, die steuerliche Gemeinnützigkeit oder es droht gleich das Vereins- oder Parteiverbot.

Die „10 Gebote“ des Schutzes der kapitalistischen Ordnung vor Anfeindung finden sich im KPD-Urteil vom August 1956. Deswegen verweisen Gerichte jeglicher Instanz in schöner Regelmäßigkeit auf die in Beton gegossenen Grundsätze. Die abgedroschene Phrase erspart das Nachdenken und klingt immer gleich. So schreibt das Oberverwaltungsgericht NRW (13. Februar 2009): „Die Verfassungswidrigkeit einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung ist seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) geklärt.“ Oder das Bundesverwaltungsgericht (21. Juli 2010): „Mit diesen zentralen Verfassungswerten nicht vereinbar sind eine sozialistische Revolution und die Diktatur des Proletariats im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne einer sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung.“ Das Gericht verweist auf das KPD-Verbotsurteil.

Auch die Tageszeitung „junge Welt“ musste sich die 70 Jahre alte Konstruktion, zu deren Beleg das KPD-Verbotsurteil angeführt wird, entgegenhalten lassen: „Die jW bejaht neben Marx jedoch auch Lenin und seine Theorien, weshalb anzunehmen ist, dass die jW auch die vorbeschriebene Gesellschaftsordnung im klassischen marxistisch-leninistischen Sinne gutheißt.“ (VG Berlin, 18. Juli 2024). Schon das Gutheißen – erfolgt es publizistisch – ist allemal Grund genug zur Beobachtung durch eine vom Innenministerium weisungsabhängig sammelwütige Behörde. Eigentlich gut zu wissen, dass schon die Erwähnung der Marxschen Theorie für Haarrisse in der hübsch zurechterzählten Fassade des „Demokratiemodell(s) mit einer auf allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehende(n) Volksvertretung“ (VG Hamburg) sorgt.

Die Angst vor einer gesellschaftlichen Alternative treibt die Hamburger Richter sogar so weit, auch noch gleich die gesamte kapitalistische Verfasstheit der Wirtschaftsordnung unter Artenschutz zu stellen. Die „von Marx und Engels beschriebenen Aufgaben (unter anderem Verstaatlichung der Unternehmen, Erarbeitung eines „gemeinschaftlichen Plans“, staatliche Kreditinstitute)“ widersprächen den „demokratischen Freiheitsrechten“. Das Hamburger Rezept: Mit der rosa Brille das Raubtier betrachten. Selbst zu Wirtschaftswunderzeiten durfte das Bundesverfassungsgericht (20. Juli 1954) noch feststellen, die „wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes besteht lediglich darin, dass sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat (…). Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.“ Kein Anlass, an den Grundfesten des kapitalistischen Systems zu zweifeln, aber immerhin ein Gedanke, der in Hamburg und anderswo völlig in Vergessenheit geraten ist.

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"Kapitalismus unter Artenschutz", UZ vom 15. August 2025



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