Was bisher geschah – Ein Schach-Extra

Kleine Rache an der Konterrevolution

Etwas mehr als 30 Jahre ist es her, dass die Sonne noch einmal schön wie nie über Deutschland schien. Denn im Jahr 1995 schlugen Horst Rittner, Volker-Michael Anton, Horst Handel, Heinrich Burger, Hans-Ulrich Grünberg und Fritz Baumbach der Geschichte ein Schnippchen. Die sechs Männer bildeten die Fernschach-Nationalmannschaft der DDR, die dem Arbeiter-und-Bauern-Staat fünf Jahre nach der Konterrevolution noch eine olympische Bronzemedaille bescherte.

Bei der 10. Fernschach-Olympiade, die von 1987 bis 1995 ausgespielt wurde, belegte die DDR den dritten Platz hinter der ebenfalls nicht mehr existierenden So­wjet­union auf Platz 1 und den mit Silber bedachten Klassenfeinden aus dem schwächelnden, aber bislang weiter bestehenden Britannien.

Der unverhoffte sportliche Siegeszug des Sozialismus war vor allem der langen Dauer des Turniers zu verdanken. Fernschach war schon immer ein eher ruhiger Sport, gespielt mithilfe von Postkarten, auf denen die einzelnen Züge durch die Welt geschickt wurden. Drei Tage Bedenkzeit hatte der Empfänger einer solchen Postkarte, bis er antworten musste. Unter Berücksichtigung des Postlaufes dauert ein einzelner Zug schon einmal einen Monat, durch die Wirren in der zerschlagenen So­wjet­union teils auch deutlich länger.

Mit dem amtierenden Fernschachweltmeister Fritz Baumbach an der Spitze waren der DDR-Mannschaft schon früh sehr gute Chancen auf eine Medaille zugesprochen worden. Sein Großmeistertitel war Baumbach nach dem dreijährigen Lenin-Gedenkturnier (1970 bis 1973) verliehen worden.

Aber auch an einem Weltmeister gingen die mentalen Herausforderungen einer Olympiade nicht spurlos vorbei, wie eine Episode zeigt, die Baumbach später der ARD-„Sportschau“ erzählte. Nach zweitägiger Analyse einer Stellung hatte sich Baumbach auf einen Zug festgelegt und diesen in den Briefkasten geworfen. Erst am Abend wurde ihm klar, dass es sich möglicherweise um einen schwerwiegenden Patzer handelte. Ausgerüstet mit Bestechungsgeld fing Baumbach den Postboten ab, um die Karte zurückzuholen. „Ich war entschlossen“, sagte er später. Auch ein „Postraub“ schien ihm nicht völlig abwegig, um den schlechten Zug zu verhindern. Der Postbote zeigte sich kulant und half Baumbach dabei, die Karte zu finden. Der Weltmeister analysierte die Stellung erneut – und blieb bei seinem Zug. Der war „doch gut“, befand er schließlich.

Ein weiteres prominentes Mitglied des Kaders war Heinrich Burger, der im Jahr 1976 in Westberlin als Kundschafter des Ministeriums für Staatssicherheit enttarnt und verhaftet worden war. Er hatte als Polizeireporter für die „Berliner Morgenpost“ gearbeitet und am 2. Juni 1967 die Ermordung Benno Ohnesorgs fotografiert. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung war er Präsident des Berliner Schachverbands (BRD) und Pressesprecher des SPD-Landesverbands Berlin gewesen. Im Gefängnis spielte Burger weiter Fernschach und wurde nach drei Jahren Haft gegen vier BND-Agenten ausgetauscht. Zwischen 1979 und 1989 spielte er Nahschach in der DDR-Liga.

1995 - Kleine Rache an der Konterrevolution - DDR-Sport, Schach, Was bisher geschah - Die letzte Seite

Nach mehr als sieben Jahren endete die 10. Fernschach-Olympiade. Im März 1995 fand die Siegerehrung im Magdeburger Hotel „Ratswaage“ statt. Eine Besonderheit, denn üblicherweise wurden Fernschach-Medaillen ohne großen Aufwand und stilecht per Post verschickt. Doch Fritz Baumbach hatte den feierlichen Akt organisiert und die Spieler aus der So­wjet­union und Britannien eingeladen. Das Medieninteresse war ungewöhnlich groß und anhaltend. Die RTL-Sendung „Stern TV“ lud die DDR-Mannschaft ein, hisste in der laufenden Sendung Hammer und Zirkel im Ährenkranz und spielte die Hymne der DDR. Erst vor Kurzem veröffentlichte die ARD eine Dokumentation mit dem Titel „Der letzte Sieg des Sozialismus“ – wie sehr sie sich getäuscht haben.

Selbstverständlich ging es den BRD-Medien mit ihren Glückwünschen vor allem um eine erneute Beerdigung der DDR. Doch der Sozialismus hat keineswegs „nur“ im Fernschach überlebt. Er schickt sich vielmehr an, das Fernschach zu überleben. Denn die Disziplin hat – zumindest für internationale Turniere – ihren Glanz verloren. Mussten sich Fernschach-Spieler Anfang der 90er Jahre noch auf stundenlange Analysen und den eigenen Geist verlassen, um einen guten Zug zu finden, dominieren heute leistungsstarke Schachcomputer die Szenerie. Der übermenschlichen Spielstärke der Engines ist es zu verdanken, dass Siege im Fernschach fast unmöglich geworden sind. Die allermeisten Partien enden Remis.

Unterdessen lebt der Kampf für den Sozialismus weiter – nicht nur im tapferen Kuba und in den Ländern, die einen sozialistischen Entwicklungsweg eingeschlagen haben (und von denen das größte die amtierende Schachweltmeisterin Ju Wenjun stellt). Doch bevor das Pathos überquillt, enden wir mit einer einfachen Einsicht, die Schach und Politik verbindet: Rückschläge kommen vor, aber das Ergebnis sollte man erst verkünden, wenn die letzte Partie ausgespielt ist.

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"Kleine Rache an der Konterrevolution", UZ vom 26. Dezember 2025



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