Zum 70. Eurovision Song Contest

Kraniche für Wien

Der 70. Eurovision Song Contest am 16. Mai 2026 in Österreich steht unter keinem guten Stern. Der Musikwettbewerb in der Stadthalle Wien mutiert zum großen Strafgericht. Mehrere Länder – Island, Spanien, Irland, Slowenien und die Niederlande – boykottieren den ESC wegen einer neuerlichen Teilnahme Israels ungeachtet der Gemetzel in Gaza und des Genozid-Verfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof. Belgien, Schweden und Finnland erwägen ebenfalls eine ESC-Absage. Nemo, der Schweizer Gewinner-Act im Vorjahr, an den sich nur noch wenige erinnern dürften, generiert mit der Rückgabe seiner Siegertrophäe internationale Schlagzeilen, erntet aber auch offenen Hass im Netz.

Wer nicht mitmacht beim Boykott, gilt den einen als Helfershelfer beim Völkermord der Netanjahu-Regierung, wer mitmacht den Rechten als Antisemit. Nichts wäre dümmer, als diesen Kulturkampf nun auch von links zu befeuern. Dass Künstler aus Israel weiter am Eurovision Song Contest teilnehmen dürfen, Musiker aus Russland aber seit 2022 mit Auftrittsverbot belegt sind, zeugt von der unerträglichen Doppelmoral des selbsternannten „Wertewestens“.

Der ESC könnte ein Ort sein, an dem Menschen zusammenkommen, auch wenn ihre Regierungen es nicht tun. Künstler sollten dort nicht als deren politische Stellvertreter auf der Bühne stehen, sondern bestenfalls als Kulturbotschafter. Es ist falsch, vom moralischen Hochsitz aus israelische Künstler für die verbrecherische Politik ihrer Regierung pauschal in Sippenhaftung zu nehmen und aus dem Wettbewerb zu drängen. Ziel muss vielmehr sein, ihre russischen Kollegen wieder ins europäische Konzert zu integrieren. Kunst lebt von Begegnung, nicht von Boykott. Der Kulturbetrieb darf nicht zu einem Fallbeil des unsinnigen Sanktionsregimes der EU mutieren. „Wenn die Politik es nicht tut, muss die Kunst die letzten Brücken erhalten, die nach dem Krieg gebraucht werden“, sagt der großartige Liedermacher Tino Eisbrenner und fährt gerade nach Russland, um dort das Lied von den Kranichen zu singen.

Umgekehrt gilt aber auch: Wer lautstark für die weitere Teilnahme Israels beim ESC trommelt, aber zum Ausschluss Russlands schweigt oder kriegsbesoffen den Kulturboykott in diesem Fall auch noch unterstützt, der kann in den Keller gehen und dort seine Gitarre quälen, auf internationaler Bühne wie in der Politik ist er eine Fehlbesetzung.

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"Kraniche für Wien", UZ vom 19. Dezember 2025



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