Britische Lkw-Fahrerkrise entstand unabhängig vom Brexit

Ohne Wasserpistole

Nicht alle Räder stehen still, aber so manche. Zuerst die vieler Lastwagen, dann die vieler Pkw. Ein Viertel der Tankstellen ist laut der „Petrol Retailers Association“, dem britischen Tankstellenbetreiberverband, ohne Treibstoffnachschub, und in manchen Kaufhausregalen fehlt es an Ware, weil tausende Lkw nicht fahren. In der Tat gibt es ein Transportproblem, und die konservative Johnson-Regierung ruft nun das Militär zu Hilfe.

Der deutsche Qualitätsjournalismus und der rechte Flügel der Labour-Partei sind sich einig: Schuld hat der Brexit, wenn es in Britannien an angeblich hunderttausend Lkw-Fahrern mangelt – dass die Zahl der Lkw-Fahrer aus EU-Staaten, die nach dem Austritt das Land verlassen haben, mit dieser Menge bei Weitem nicht korreliert, wird nicht weiter thematisiert. David Lammy, Labour-Schattenjustizminister, differenziert immerhin und gibt zu, dass die „chaotische Handhabung des Brexits durch die Tories die Fahrerknappheit verschärft“ habe. Insofern bestand selbst für den rechten „Labour“-Flügel das Problem schon vorher.

Dafür spricht auch, dass die größte britische Gewerkschaft „Unite“ schon im Juni ein Manifest mit Forderungen und Anregungen veröffentlicht hat – lange bevor die deutschen Medien tagelang die immer gleichen Bilder von sich vor Zapfsäulen prügelnden Autofahrern wiederholen konnten. In dem Manifest geht es auch nicht um den Brexit, sondern es wird darauf hingewiesen, dass das Problem schon seit Jahren besteht, aber nicht gehandelt wurde. „Unite“ fordert bessere Bezahlung, attraktivere Arbeits- und Fahrzeitenregelungen, ein Ende von Outsourcing und Scheinselbstständigkeiten. Die Gewerkschaft weist außerdem darauf hin, dass die Beschäftigten im Transportwesen – im Gegensatz übrigens zum ÖPNV – vor allem „weiß, männlich und mittleren bis höheren Alters“ seien. Für potenziell gefährlich hält „Unite“ die gerade lancierte Regierungsidee, die täglichen Fahrzeiten um eine auf elf Stunden zu verlängern, verbunden mit einer entsprechenden Ausdehnung der Zwei-Wochen-Erlaubnis von 90 auf 99 Stunden. Der „Unite“-Beauftragte Adrian Jones befürchtet eine wachsende Ermüdung, die Unfall- und Gesundheitsgefahren mit sich bringen werde. Im Kern gehe es darum, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen zu schaffen statt einer diesbezüglichen Abwärtsspirale: „Nichts zu tun ist keine Option. (…) Die Regierung muss radikal schauen, dass die Fahrerknappheit nicht zu einer ausgewachsenen Krise führt, die die wirtschaftliche Erholung ausbremst.“

Vier Monate später scheint das der Fall zu sein. Der Chef von „Wincanton“, eines der großen britischen Transportunternehmen, möchte die Ausbildungszeit um 75 Prozent verkürzen und zudem ausländische Fahrer zurückholen. Die Fahrergewerkschaft GMB hält das für eine Idee, die langfristig nichts bringe: „Das ist das Löschen eines Waldbrands mit einer Wasserpistole.“

Die Konservativen setzen ähnlich wie die Unternehmen auf eine Vereinfachung bei Einstellungen und mehr Führerscheinprüfungen. Letztere haben durch Corona auch in der gesamten EU spürbar nachgelassen, weshalb deutsche Transportunternehmer anmerken, dass in den nächsten Monaten auch hierzulande Engpässe entstehen könnten. Diese sind teilweise schon jetzt akut und tragen zu Materialmangel in Handwerk und Industrie und damit indirekt zu gestiegenen Verbraucherpreisen bei. Im internationalen Austausch verschärfen die Pandemie-Bestimmungen die Lage noch, da die Bewegungsfreiheit für Dutzende Millionen Transportarbeiter weltweit eingeschränkt ist, die meist nicht einmal Zugang zu Impfstoffen hätten, so die „Internationale Schifffahrtskammer“ (ICS) in einer Erklärung. Und das, obwohl es in 190 Ländern der Welt keinen EU-Austritt gab.

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"Ohne Wasserpistole", UZ vom 15. Oktober 2021



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