Britinnen und Briten wehren sich gegen miese Löhne und steigende Energiekosten

Es wird eng für die Tories

Arbeiter in Britannien könnten bald gezwungen sein, mehr als zwei Monatsgehälter ihres Jahreseinkommens für Energierechnungen auszugeben, so die Warnung des britischen Gewerkschaftsbunds TUC. Laut Experten werden die jährlichen Energiekosten für Durchschnittshaushalte im kommenden Jahr die atemberaubende Summe von 5.000 Pfund überschreiten, berichtet unter anderem die britische Zeitung „Morning Star“.

Nach Angaben der Bank of England wird das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen im nächsten Jahr 2.054 Pfund betragen – weniger als die Hälfte der geschätzten jährlichen Gesamtenergiekosten, so der Gewerkschaftsbund. Der TUC verurteilte die profitgierigen Energiebosse und forderte die unter Druck stehenden Tory-Minister auf, sich mit Gewerkschafts- und Wirtschaftsführern zu treffen, damit sie „gemeinsam eine dringende Antwort auf die Krise entwickeln können“.

Dieser Aufruf erfolgte, nachdem der Verbraucherexperte Martin Lewis nach einem Jahrzehnt stagnierender Löhne und den in diesem Jahr sprunghaft angestiegenen Energiekosten vor einer „nationalen Krise gleichen Ausmaßes, wie wir sie während der Pandemie erlebt haben“, gewarnt hatte. Die Befürchtung, dass viele Familien am Rande des finanziellen Abgrunds stehen, wurde noch verstärkt, als das Energieberatungsunternehmen Auxilione warnte, dass die Energiepreisobergrenze, die für Haushalte in England, Wales und Schottland gilt, ab April nächsten Jahres „albtraumhafte“ 5.038 Pfund pro Jahr erreichen könnte. Die von der Regulierungsbehörde Ofgem festgelegte Summe liegt um mehr als 200 Pfund höher als eine Prognose, die Anfang vergangener Woche vom Beratungsunternehmen Cornwall Insight abgegeben wurde, und ist fast viermal so hoch wie der Durchschnittspreis vor der Preiserhöhung, die es im April dieses Jahres gab. Cornwall Insight hatte seine Prognose am Montag vergangener Woche bereits um 650 Pfund nach oben korrigiert. Bei den 5.000 Pfund wird es vermutlich nicht bleiben.

Laut TUC ist dies das Ergebnis von „politischen Entscheidungen aus zwölf Jahren Tory-Regierungen“. Diese Krise treffe nun Familien „zu einem Zeitpunkt, an dem sie bereits mehr als ein Jahrzehnt lang den längsten und stärksten Druck auf die Löhne seit 200 Jahren erlebt haben“.

Der TUC und Einzelgewerkschaften fordern Reformen für den Energiesektor, so müssten zum Beispiel Energieeinzelhändler in öffentliches Eigentum überführt und neue Preisstrukturen geschaffen werden, die „den grundlegenden Energiebedarf erschwinglich machen“.

Einen Schritt weiter gehen die Aktivisten der Kampagnengruppe „Enough is Enough“ („Genug ist genug“): Sie fordern, dass profitorientierte Energieunternehmen in die öffentliche Hand überführt werden. Sie kündigten an, es nicht hinzunehmen, dass Konzerne mit dem Elend von Millionen von Menschen Rekordgewinne machen. „Es ist an der Zeit, eine Kampagne aufzubauen, um sich zu wehren“, twitterte eine Sprecherin der Kampagne.

Die Initiative, die von Arbeitern, Gewerkschaftsführern wie Mick Lynch von der RMT und Labour-Abgeordneten wie Zarah Sultana unterstützt wird, hat nach Angaben der Organisatoren innerhalb von 24 Stunden nach ihrer Gründung am Montag vergangener Woche 150.000 Mitglieder gewonnen. Zeitgleich haben mehr als 100.000 Menschen sich der „Don‘t Pay, UK“-Kampagne angeschlossen. Ihnen geht es darum, dass möglichst viele Menschen den Energiekonzernen das Lastschriftverfahren zum 1. Oktober kündigen – Ziel ist, dass eine Million Britinnen und Briten ihre Energierechnungen nicht zahlen. Die britische Regierung verurteilte die Kampagne und ließ eine Sprecherin erklären, weder Energiekonzerne noch Regierung könnten etwas für die Preise: „Dies ist eine höchst unverantwortliche Botschaft, die letztlich nur die Preise für alle anderen in die Höhe treiben und die persönliche Kreditwürdigkeit beeinträchtigen wird.“

Zeitgleich zeigt die britische Regierung keinerlei Interesse daran, an der Gehaltssituation im Lande etwas zu ändern. Die Lehrerinnen und Lehrer der Gewerkschaft NASUWT haben das jüngste Angebot der Tory-Regierung abgelehnt und davor gewarnt, dass dies die Attraktivität der Berufe im Bildungswesen noch weiter senken wird. Die Regierung hatte in der aktuellen Verhandlungsrunde über die Vergütung für das Schuljahr 2022/23 eine Lohnerhöhung von 5 Prozent angeboten – damit läge sie weit unter einem Inflationsausgleich. Sollte die Regierung nicht mit einem besseren Angebot an den Verhandlungstisch zurückkehren, hat NASUWT für den Herbst die Urabstimmung angekündigt.

Rund 100.000 Beschäftigte des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS sind ebenfalls zum Streik aufgerufen. Laut der Gewerkschaft Unite bleibt der Streik den NHS-Beschäftigten nach einem weiteren „miserablen“ Angebot als letzte Möglichkeit. Die von der Tory-Regierung angekündigte Lohnerhöhung von 4 Prozent für Beschäftigte der mittleren Lohngruppen ist bei der derzeitigen Inflationsrate eine massive Gehaltskürzung: Die Inflationsrate des Verbraucherpreisindexes, die im Juli mit 9,4 Prozent einen 40-Jahres-Höchststand erreichte, wird bis zum Herbst voraussichtlich auf 13,3 Prozent ansteigen, in dieser Schätzung sind allerdings nur Energiekosten von 3.000 Pfund eingerechnet. Unite hat eine Lohnerhöhung von 5 Prozent über der Inflationsrate gefordert. Die Urabstimmung wird zwischen dem 15. September und dem 13. Oktober stattfinden.

Auch in den Verhandlungen mit der Transportarbeitergewerkschaft RMT bewegt sich die britische Regierung nicht – für Donnerstag und Samstag (nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ) sind die Bahner erneut zum Streik aufgerufen, für Freitag die Mitarbeiter der Londoner U-Bahn. Am vergangenen Samstag hatte die Arbeitsniederlegung der Lokführer landesweit für Chaos gesorgt. Der Vorsitzende der Rail Delivery Group, Steve Montgomery, kündigte daraufhin Gespräche mit der Lokführergewerkschaft Aslef an.

Die Kampagne „Enough is Enough“ kündigte an, den „heutigen Krieg gegen die Arbeiter in einen Konflikt gegen jeden uns verarschenden Boss, parasitären Vermieter und korrupten Politiker in diesem Land zu verwandeln“.

Wer auch immer die Nachfolge von Boris Johnson antritt, wird sich im Herbst warm anziehen müssen. Die nächste Preissteigerung wird für Oktober erwartet.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Es wird eng für die Tories", UZ vom 19. August 2022



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