Eine große Stimme Lateinamerikas ist verstummt

Poesie und Politik

Ernesto Cardenal ist tot. Seit längerem krank, starb er vor wenigen Tagen im Alter von 95 Jahren in seinem Heimatland Nicaragua. Er wurde gerne als „Dichterpriester“ bezeichnet, ein Versuch, die beiden Hauptfelder seines individuellen und gesellschaftlichen Lebens mit einem Begriff zu fassen. 1925 in Granada, einer Stadt südlich der Hauptstadt Managua geboren, wuchs er in gutbürgerlichen Verhältnissen auf. Die Familie nahm ihr Christentum ernst, der ältere Bruder von Ernesto wurde Jesuit, ihm folgte er, zum Priester wurde Cardenal 1965 geweiht. Er wollte aber nicht die übliche Karriere in der Kirchenhierarchie seines Landes einschlagen, er ging aufs Land zu den Bauern und gründete eine Basisgemeinde. In diesen Jahren entwickelte er seine Vorstellungen einer Theologie, die die Bergpredigt ernst nimmt, die Nächstenliebe und die Barmherzigkeit an die erste Stelle gesetzt. Dort entstand sein Hauptwerk „Das Evangelium der Bauern“, das weit über Nicaragua hinaus große Beachtung fand und dann Teil der sogenannten „Befreiungstheologie“ in Lateinamerika wurde.

Cardenal war ein großer Theologe, seine Vorstellungen verknüpften den Erlösungsgedanken mit den Forderungen, dass nicht erst im Jenseits soziale und politische Verhältnisse gestaltet werden müssen. Um dies zu verdeutlichen, schrieb er, von Jugend an dazu angeregt, eine Fülle von literarischen Texten, besonders in der lyrischen Form. Nicht ungewöhnlich in Lateinamerika, die Kunst der Poesie wird schon in den Mythen als eine Göttergabe gedeutet – als Feuer, das vom Himmel an die Begnadeten weitergereicht wird. Seine künstlerische Arbeit verstand er gleich dem Gebet als eine Anrufung Gottes, verstanden von den Menschen. Als politischer Flüchtling ging er 1956 ins Exil und trat 1957 in Kentucky (USA) in ein Trappistenkloster ein. Dort schrieb er sein erstes lyrisches Hauptwerk „Das Buch von der Liebe“, das 1971 auf dem deutschen Buchmarkt erschien und ihn bekannt machte. Ebenfalls in dieser Zeit entstand „Psalmen“, ein lyrischer Aufschrei gegen die menschenverachtende Diktatur in seinem Land. Erst als 1979 die Sandinistische Befreiungsfront (FSLN) das Schwein Somoza stürzte, kam er als Mitkämpfer zurück und wurde Kulturminister. Im Laufe der nächsten Jahre wurde zwar Cardenal zum „Star“ auf internationalen Konferenzen und Buchmessen, mit der Politik der Sandinisten geriet er in Konflikte, so sprach er sich gegen eine „Revolution der Rache“ aus, die er den Sandinisten unterstellte. Dass er mit der römischen Kurie und dem reaktionären polnischen Papst, Karol Wojty?a, in einem Dauerstreit lag, führte dazu, dass er seines Priesteramtes enthoben wurde. Erst vor einem Jahr, als er schwerkrank war, bequemte sich die Amtskirche dazu, die Suspendierung aufzuheben.

Der Priester Cardenal wie auch der Dichter Cardenal verstieg sich zu einer politischen Haltung, die nicht mehr zu verstehen ist. So besuchte er mehrmals Ajatollah Chomeini, stand noch an dessen Sterbelager. Wollte er eine verlorene Seele retten, Gemeinsamkeiten der Religionen beschwören? Cardenal ließ nicht nach, Daniel Ortegas Amtsführung zu kritisieren, dem er Vetternwirtschaft und Korruption vorwarf. Er unterstellte der Führung, ihn politisch zu verfolgen, und hielt sich in den Nullerjahren dieses Jahrtausends vorwiegend in Europa auf. Ob er den Ausgang der Amazonas-Konferenz, der viele fortschrittliche Theologen tief enttäuschte, mit Bitternis zur Kenntnis nahm oder sich schon auf seine Begegnung mit Gott vorbereitete? Seine Verse sollten weiter gelesen werden, der alttestamentarische Zorn und die durch Jesus begründete Güte wollte Ernesto Cardenal in eins bringen.


Und es gibt Tage an denen wir Zeichen brauchen.
Allein mit unserer Einsamkeit.
Wie die Heilige Teresita,
die auf ihrem Sterbebett plötzlich zweifelte,
ob es Gott wirklich gibt.
Da schau ich vom Auto aus
zu den großen Lettern auf dem Hügel hinauf
und in mir spricht Gott zu mir
„Siehe, was ich für dich getan habe,
für dein Volk. Sieh diese Lettern und zweifle nicht an mir,
glaube, kleingläubiger Mensch, Feigling

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Über den Autor

Herbert Becker (Jahrgang 1949) hat sein ganzes Berufsleben in der Buchwirtschaft verbracht. Seit 2016 schreibt er für die UZ, seit 2017 ist es Redakteur für das Kulturressort.

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"Poesie und Politik", UZ vom 6. März 2020



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