Tino Eisbrenners neues Album „Kompass“ – ein Plädoyer für Frieden und Völkerverständigung

Lieder als hoffnungsvolle Zeitzeichen

„Ich beobachte dich“, den alten „Jessica“-Ohrwurm, singt mir Tino Eisbrenner ins Gesicht, als wir uns beim „I. Nationalen Denkfest der Aktiven“ am Schweriner See treffen. „Dachtest du vielleicht, ich dich nicht?“ Tatsächlich haben wir uns, seit wir uns nach langer Zeit wiedersahen, im Auge behalten. Ich erlebe mit großer Achtung, wie seine Liedkunst neben den einfachen Lebensdingen des Alltags brennende Zeitfragen berührt. Hoch artifiziell, dabei erfrischend kommunikativ, befördert sie eben dadurch Lust zum Nach- und Weiterdenken. Im bellizistisch aufgeladenen Heute will Eisbrenner, wie unlängst durch seine ergreifende Interpretation des Antikriegsliedes „Schurawli“ (zu Deutsch „Kraniche“), Zeichen für Frieden und Verständigung der Völker setzen. Die russophoben Kriegsängste, geschürt von verantwortungsloser Aufrüstungspolitik und uniformem Medienecho, in Vernunft zu verwandeln, ist ein vordringliches Anliegen seiner Arbeit. Auf der Suche nach einem Friedenslied für neue Programme stieß er auf mein „Es wächst das Brot uns nicht von allein“. Ich war ein Teenager, als ich das schrieb. Ein halbes Jahrhundert später erinnerte sich Tino an den Song, probte ihn – und wie Zufälle so spielen, trafen wir uns kurz darauf wieder. Tino nahm den Song auf seine neueste CD „Kompass“ und inzwischen hatten wir einige Auftritte gemeinsam. Aus der Beobachtung ist Freundschaft geworden.

„Kompass“ als Kompass für Friedenswillige

„Kompass“ ist das 16. Album, das seit 1986 von Tino Eisbrenner erschienen ist. Zwei wurden noch zu DDR-Zeiten verlegt, die anderen sind Nachwendeprodukte. Hinzu kommen weitere Sammlungen, die Tino als Texter und Sänger von „Hausboot“, einer künstlerischen Kooperation mit dem Komponisten, Gitarristen und Produzenten Heiner Lürig, veröffentlichte. Zur musikalischen Ernte gehören diverse Singles, darunter 2020 ein Remake von „Ich beobachte dich“, das in der „Jessica“-Fassung 1984 einen ansehnlichen achten Platz auf der DDR-Hitparade erstürmte. „Jessica“, im Jahr zuvor von Tino mit Schulfreunden als Amateurband gegründet, avancierte bei Umfragen 1985 und 1986 zur beliebtesten Nachwuchsband der DDR und hatte auch erfolgreiche Auftritte in der sozialistischen Hemisphäre. Nach Auflösung der Band verfolgte Tino Eisbrenner eine Solokarriere. Er erweiterte sein Repertoire um Brecht-, Heine- und Tucholsky-Programme, arbeitete mit mexikanischen Indigenen zur Förderung ihrer Kultur zusammen. Seine Arbeit machte ihn mit Heinz Rudolf Kunze bekannt und man sah ihn gleichfalls als Buchautor, Kulturmanager und Produzent in Aktion. Im Jahre 2002 gründete er sein Label Manana Records, das nun auch sein jüngstes Album „Kompass“ editierte.

KOMPASS Cover final 1 - Lieder als hoffnungsvolle Zeitzeichen - Tino Eisbrenner - Kultur

Die CD ist ein von Heiterkeit und Schwermut durchwirktes Panorama von Zeitzeichen. Relevant in ihren inhaltlichen Bezügen, musikalisch in der Spannbreite von sparsamer bis opulenter Orchestrierung und vom Typus des Gesangs den jeweiligen Sujets angemessen. Alles passt sinnfällig zueinander und ist dabei keine leichte Kost. Die Poesie verlangt Konzentration. Wenngleich „Dichtung und Wahrheit“, strenggenommen, das einzige Liebeslied des Albums ist, weitet sich der Begriff, sobald man des Sängers Liebe für die Nachdenklichen und Unangepassten bedenkt, die sich zu den harschen politischen und sozialen Wahrheiten der Gegenwart durchbeißen. Für Leute also, die „Der Sache auf den Grund“ gehen, obwohl doch ängstliches Ondit warnt: „Wer aus der Herde tanzt, den beißt der Hund“. Für jene auch, die „Keine Meile von hier“ die Schatten eines Kaisers fürchten, der für das mörderische „Unternehmen Barbarossa“ – Hitlers Überfall auf die So­wjet­union – vor mehr als acht Jahrzehnten seinen Namen geben musste und dessen bedrohlicher Geist erneut so sehr über uns wabert, dass der „Morgen wie Sandpapier“ erscheint. Aber die Wachen, die in den Konsequenzen denken, haben ja trotzdem so viel Hoffnung und Lebenslust, dass sie „Der Welt ein liebes Lied“ singen. Noch immer halten sie Wunder der Vernunft für möglich. Schöne russische Lieder hören wir, von Eisbrenner übersetzt und auszugsweise auch in der Originalsprache vorgetragen. Das nachdenkliche „Wisse“, geschrieben von YUTA (das ist Anna Wladimirowna Syomina), hebt mit verhaltener Piano-Begleitung an. Ein begleitendes Video zeigt Tino Eisbrenner auf dem Treptower Ehrenmal, wo Tausende in der Schlacht um Berlin gefallene Rotarmisten begraben sind. „Nein, wir tauschen dem Feind nichts zurück“ ist seine Botschaft. „Wir wissen, wer den Dolch getrieben hat!“ „Schurawli“ steht auf der CD als ein Friedenslied von einzigartiger Erhabenheit, bei dem man unwillkürlich die Stunde mitdenkt, in der Tino es der russischen Öffentlichkeit in deutscher Sprache vorstellte. Viele der Rotarmisten die „Auf jener namenlosen Höhe“ in Todesnähe um den Sieg der Heimat kämpften, werden sich im „Dunkel der Nacht“ durch die Sehnsucht nach ihren Familien, ihrem Zuhause Mut zugesprochen haben. Dieses eindringliche Lied aus dem 1943 gezeigten Film „Zwei Krieger“ erinnert mich jedes Mal an „Wart auf mich“, das im Inferno des sowjetischen Verteidigungskrieges gleichfalls jene so berührende Innigkeit ausstrahlt, die nur die Gerechtigkeit der zu verteidigenden Sache eingibt. Bulat Okudschawas „Freundesbund“ besingt den Wert wahrer Freundschaft, der persönlichen wie der großen, grenzenlos weiten, deren Unterpfand immer wieder ein friedliches Miteinander ist. Natürlich habe ich mich gefreut, dass Tino mein Friedenslied auf die CD genommen hat. Es klingt nach ihm und mir gefällt es so, dass ich es mit seinem Plazet auch auf meinem neuen Album platziert habe.

Der Abschluss von „Kompass“ ist ungewöhnlich. Tino liest aus Friedrich Hölderlins „Brief aus Deutschland“, geschrieben 1799. Die Vorhaltungen des seinerzeit verkannten Dichters gegen das deutsche „Wesen“ klingen hart und verzweifelt. Wo widersprechender Intellekt drangsaliert verkümmert und Künstler beleidigt werden, da sei doch jeder andere Stern besser als die Erde. Den Seufzer hören wir wohl, aber wir haben keinen anderen Planeten. Also muss der Intellekt gegen alle Fesseln Klartext reden!

Für bessere Beziehungen zu Russland

Dass so viele Lieder auf „Kompass“ russischen Ursprungs sind, ist kaum zufällig. Nicht allein wegen seiner Familienverhältnisse ist Tino Eisbrenner gegen die aggressive Russlandfeindlichkeit immun, die wechselnde Farballianzen am bundesdeutschen Regierungsruder dem Medien- und Kunstbetrieb aufzwingen wollen. Wo sich Ängstliche und Geschmeidige fügen, widerspricht er laut. Die staatstragenden Medien quittieren das mit Sperre. Wer deren Gleichschaltung verachtet, muss zu dem Schluss kommen, dass Tino Eisbrenner vieles richtig macht. Mit seiner Ehefrau Sofia hatte er bereits 2015 den Verein „Friedensgesellschaft Musik statt Krieg“ gegründet und 2022 war er Initiator des Offenen Briefes „Kultur ist Frieden, Frieden braucht Kultur“, der sich gegen eine Vereisung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zu Russland wandte. Geradezu hasserfüllt war die Reaktion der Russland-Boykotteure, als Tino Eisbrenner 2023 in Moskau beim Musikfestival „Der Weg nach Jalta“ aufgetreten war. Gemeinsam mit der ausdrucksstarken russischen Sängerin Zara hatte er das berühmte „Kraniche“-Lied vorgetragen und den 2. Platz errungen. Wer den Auftritt, den das russische Fernsehen aufgezeichnet hatte, verfolgte, der sah, wie sich beim Vortrag in deutscher Sprache ein sechstausendköpfiges Publikum im Großen Saal des Kreml-Palastes von den Plätzen erhob. Tino erzählte, dass er, überwältigt von dieser Geste, nur unter großer Mühe das Lied zu Ende singen konnte.

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Tino Eisbrenner beim Festival „Doroga na Jalty“ (Weg nach Jalta) in Moskau 2023 (Foto: Artem Lunex, Road to Yalta)

Zur Musik von Jan Frenkel hatte der aus Dagestan stammende Dichter Rasul Gamsatow, angeregt vom Schicksal des japanischen Mädchens Sadako Sasaki, das Gleichnis von den Kranichvögeln geschrieben. Sadako, nach dem Abwurf der US-Atombombe über Hiroshima an Leukämie erkrankt, hatte in vergeblicher Hoffnung auf Heilung nach japanischem Glauben über eintausend Origami-Kraniche gefaltet. Gamsatow benutzte die Metapher, um der Opfer von Kriegen zu gedenken und namentlich die Gefallenen des Großen Vaterländischen Krieges zu ehren. Ihm schien es, dass die Soldaten, die aus dem blutigen Feld nicht heimkehrten und ihr Grab nie in heimatlicher Erde gefunden hatten, in weiße Kraniche verwandelt, um die Welt fliegen würden. Wer diesem Gleichnis folgt, der tritt – wie Tino – für eine würdevolle Ehrung der Rotarmisten ein, die Deutschland vom Faschismus säuberten. So sahen wir uns zum 80. Jahrestag der Befreiung auf der Kundgebung am sowjetischen Denkmal im Tiergarten und protestierten gegen die beschämenden Restriktionen, die eine geschichtsklitternde Staatsmacht hierzulande gegen russische Diplomaten und Besucher der Ehrenhaine erlassen hatte. Aufrichtig gratulierten wir Tino Eisbrenner, als er in diesem Jahr die von der russischen Präsidentschaft gestiftete Puschkin-Medaille erhielt. Für Verdienste zur „Annäherung und zur wechselseitigen kulturellen Bereicherung der Nationen und Völker“ ausgelobt, erreichte die Ehrung in frostiger Zeit einen „Eisbrecher“, der wirkungsvoll für Entspannung und eine Rückkehr zur Di­plo­matie wirbt.

„Friedenstaub(e)?“

Friedenstaub oder Friedenstaube? Diese Gewissensfrage ist im Logo der bereits erwähnten, von Tino Eisbrenner und den Friedensaktivisten Henry und Andrea Marek (den Gastgebern aus dem Ferienpark Retgendorf) initiierten Begegnung verdichtet. Seit März 2023 fanden an den Ufern des Schweriner Sees bisher drei „Nationale Denkfeste der Aktiven“ statt, das vierte ist in Vorbereitung. „Kommt an den Tisch unter Kiefernbäumen“ bleibt die auf Franz Josef Degenhardts Pflaumenbaum-Vers anspielende Einladung, sich kennenzulernen, Kunst zu erleben, Gespräche zu führen, neue Kraft zu tanken und sich zu vernetzen. Selbst zweimal mit Liedprogrammen und Buchlesungen dabei, erlebte ich die inspirierende Wirkung des Events. Ich denke das als gute Ergänzung zu den Veranstaltungen „Musik statt Krieg“ in Tinos vorpommerschem „Vier Winde Hof“, auf den er seit 2002 jährlich im August Friedensbewegte für drei Tage einlädt. Stets volle Scheune – ein ermutigendes Gefühl, nicht allein zu sein in dem manchmal wie ein Kampf gegen Windmühlen anmutenden Kampf wider die Phalanx der Kriegsertüchtiger. Die haben ihren Verstand an die Rüstungsindustrie abgegeben. Wir behalten ihn, um eine bessere Zukunft zu denken. Ich beobachte dich, lieber Tino. Voller Freude. Und gerade wieder deine neue CD im Ohr.

Eisbrenner
Kompass
CD, 11 Titel, 19 Euro
Erhältlich im UZ-Shop
Konzerttermine und mehr: eisbrenner.de

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"Lieder als hoffnungsvolle Zeitzeichen", UZ vom 4. Juli 2025



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