Innerhalb der letzten zwölf Monate sind über 120.000 Industriearbeitsplätze vernichtet worden. Am 20. November meldete das Statistische Bundesamt einen dramatischen Arbeitsplatzabbau in der Automobilindustrie. Innerhalb eines Jahres gab es dort 48.700 Beschäftigte weniger. Am stärksten trifft die Deindustrialisierung die kleinen und mittelständischen Unternehmen. Während der Stellenabbau bei den großen Konzernen die Schlagzeilen beherrscht, aber noch nicht deren Existenz gefährdet, werfen von ihnen immer mehr das Handtuch.
Das schlägt sich in einer vom selben Amt eine Woche zuvor veröffentlichten Statistik nieder: Die Zahl der „beantragten Regelinsolvenzen“ ist im Oktober um 6,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen. Seit Anfang 2022 kennt diese traurige Statistik nur eine Richtung: nach oben. Überdurchschnittlich stark steigen gegenwärtig die Verbraucherinsolvenzen – also Insolvenzanträge einzelner Menschen, die nicht unternehmerisch tätig sind. Das Instrument dieser „Privatinsolvenz“ gibt es erst seit dem Jahr 1999. Die moralischen und juristischen Hürden, sich durch diesen Schritt aus den Klauen der Gläubiger zu befreien, sind recht hoch. Anders als bei Unternehmen gibt es in diesem Fall auch keine Verpflichtung, bei Zahlungsunfähigkeit einen solchen Antrag zu stellen. Dennoch sind allein im August dieses Jahres über 6.000 Menschen diesen bitteren Weg gegangen. Hochgerechnet aufs Jahr werden es bis Silvester wahrscheinlich deutlich über 50.000 sein.
Von Seiten der Bundesregierung gibt es bisher kein erkennbares Interesse daran, den Zusammenhang der Deindustrialisierung und des steilen Anstiegs von Privatinsolvenzen zu untersuchen. Dabei liegt es nahe, dass das eine zum anderen führt. Die Geschwindigkeit des Arbeitsplatzabbaus in der Exportindustrie, wo relativ gute Löhne gezahlt werden, ist rasant. Für die Beschäftigten, die dort ihre Arbeit verlieren, bedeutet das, in kürzester Zeit den Lebensstandard für sich und ihre Kinder runterschrauben zu müssen. Vor ihnen stehen deutlich schlechter bezahlte Jobs oder der tiefe Fall in Hartz IV/Bürgergeld/Grundsicherung. Sie müssen alles daransetzen, dass das Loch im Konto nicht unentwegt weiter wächst und durch Zinszahlungen noch tiefer wird, bis es irgendwann eben einfach nicht mehr geht. Neben der Belastung durch einen solchen Sturz kommt dann die Häme dazu, sie könnten wohl nicht mit Geld umgehen.
Die individuelle Schuldzuweisung eines gesellschaftlich verursachten Problems zu durchbrechen ist eins der Elemente, die dazu führen könnten, die Verhältnisse in diesem Land vom Kopf auf die Füße zu stellen. Und zwar so, dass alle wieder in Würde leben und vorankommen können.


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