Über die vier Freiheiten

Kolumne von Lucas Zeise

Lucas Zeise

Lucas Zeise

Wir lieben unsere Europäische Union, meist schlicht „EU“ genannt. Sie ist groß, stark und bietet uns vor allem vier Grundfreiheiten. Danach können Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital frei in allen Staaten der EU zirkulieren. Es ist eine Freude. Zwar bin ich nur eine Person. Dennoch erheitert und befriedigt es mich ungemein, dass auch Waren, Dienstleistungen und vor allem das nette Kapital sich fast überall in Europa, abgesehen von solch Randstaaten und Nicht-EU-Mitgliedern wie Norwegen, Island, Russland oder Schweiz, niederlassen und sogar geschäftlich betätigen dürfen.

Wie die Philosophen lehren, haben die Dinge meist einen tieferen Grund. Das ist sogar in der EU so. Warum gibt es die vier Freiheiten, fragt sich der Bürger. Damit, so die klugen Konstrukteure der EU, die Staaten der EU in einen friedlichen Wettbewerb treten können. Der Wettbewerb geht schön englisch formuliert um „Good Governance“, also die seit Jahrtausenden entbehrte „Gute Regierung“. Denn nur wo gut regiert wird, werden sich Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gern hinbewegen und sich gern niederlassen. Und so kommt es, dass wir überall in der EU so gute Regierungen haben und überall die genannten vier Gruppen mit den Füßen abstimmen, in die EU-Staaten ziehen, um dort gut regiert zu werden. Unter den vieren ist bekanntlich das Kapital (zumindest das fiktive, das in Papier- oder Geldform) das beweglichste. Wahrscheinlich deshalb haben viele EU-Staaten, z. B. die Bundesrepublik Deutschland, keine Mühe gescheut, um die Steuern fürs Kapital zu senken und dafür zu sorgen, dass die Löhne nicht zu hoch werden. Man weiß ja, dass das Kapital Steuern oder überhaupt Kosten scheut und, wenn wie in der EU möglich, überhaupt flieht.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Die Syrer, Albaner, Kosovaren und Afghanen, die in den letzten Monaten so zahlreich nach EU-Europa kamen, wurden natürlich von der Good Governance hierzulande angelockt. Man kann mit einem gewissen Nationalstolz sogar sagen, viele kamen geradewegs nach Deutschland wegen der guten Regierung Merkel, Gabriel, Steinmeier, de Maizière und natürlich Schäuble. (Nur in Parenthese: Letzterer hatte sich schon vorher bleibende Verdienste erworben, indem er speziell Kapital aus Griechenland, das vorübergehend aus dem Wettbewerb ums gute Regieren ausgestiegen war, nach Deutschland zu locken verstand.) Aber nun – im Fall der Personen – geschah Erstaunliches. Die EU-Regierungen traten gar nicht in den Wettbewerb ein. Anstatt den freien Personenverkehr zu fördern und die flüchtigen Personen auf ihr Territorium zu locken, taten sie das Gegenteil. Sie redeten über Kontingente, Abschottung, Anreize für ferne Nicht-EU-Länder wie die Türkei, die Personen bei sich zu behalten. Sie überlegten sogar, eine der vier Grundfreiheiten teilweise oder ganz fallen zu lassen.

Wir sind verwirrt und stellen betrübt fest, dass sich die vier Freiheiten der EU, der Wettbewerbsgedanke und damit die EU selbst in einer Krise befinden. Kann es so weitergehen? Wir wissen es nicht und überlassen aus Überzeugung das Regieren wie bisher den Regierungen. Nur ein Tipp für sie: Nehmt das eigene Geschwätz über Rechte und Freiheiten nicht ernst. Dann wird es mit der EU schon weiter klappen.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Über die vier Freiheiten", UZ vom 8. Januar 2016



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