Zu einigen Phrasen im öffentlichen Sprachgebrauch

Verschleiern, biologisieren, angeben

Hanns-Werner Heister

Die Phrasen, vorgefertigten Redewendungen, schiefen oder falschen Begriffe, die das öffentliche und auch private Reden durchziehen wie ein Geflecht von Schimmelpilzen, sind nicht nur sprachlich ein Problem, sondern auch sachlich. Der Mangel an Klarheit, Deutlichkeit, Präzision und Schönheit der Formulierungen ist zugleich ein Mangel an inhaltlicher Richtigkeit und Wahrheit des dergestalt Formulierten.

Es gibt zwar eher harmlose, relativ neutrale Fehler wie „scheinbar“, wenn „anscheinend“ gemeint ist. Der Unterschied wird heute vorrangig zugunsten des Scheinbaren verwischt, nicht ganz zufällig in einer des Scheins bedürftigen, real absteigenden Gesellschaft. „Anscheinend“ meint, dass etwas wahrscheinlich so und wirklich so ist, „scheinbar“ dagegen, dass es nur so scheint, aber nicht wirklich so ist. Der „Markt“ regelt scheinbar alles mit einer geradezu göttlich-magischen „unsichtbaren Hand“ zum Besten. Aber anscheinend ist das nicht richtig. Sogar Friedrich August von Hayek, ein wie seine Anhängerschaft gegen ökonomische Tatsachen resistenter führender Ideologe der Marktwirtschaft, nennt den Markt, der nicht alles, sondern eher nichts wirklich gut und schon gar nicht im Inte­resse der Mehrheit regelt, ein „gemischtes Glücks- und Geschicklichkeitsspiel“.

Verwechslungen und Verwischungen durch die falsche Anwendung von Wörtern sind also, auf problematische Sachverhalte angewandt, schon nicht mehr harmlos. Von vorneherein ein sprachliches Mittel der „marktwirtschaftlichen“ Ideologie und Propaganda ist das Paar „Arbeitgeber – Arbeitnehmer“. Schon Friedrich Engels machte sich über diese Verkehrung lustig: Diejenigen, die ihre Arbeit geben, werden als „Nehmer“ bezeichnet, diejenigen jedoch, die ihre Arbeitsresultate samt denen der unbezahlten Mehrarbeit nehmen, als „Geber“. Der Journalist und Kabarettist Martin Buchholz meinte unter ironischer Berufung auf die Seligpreisungen der Bergpredigt, „Denn Geben ist seliger denn nehmen / Die Arbeitnehmer sollten sich was schämen.“ In der Abschiedsrede des Paulus an die Ältesten von Ephesus (Apostelgeschichte 20, Vers 35) ist das noch etwas anders gefasst, gewissermaßen linkssozialdemokratisch mit Sympathie für die Arbeitenden und dem Plädoyer mindestens für Mildtätigkeit der Besitzenden gegenüber den Habenichtsen: „Immer und überall habe ich euch gezeigt, dass man in solcher Weise arbeiten und sich der Schwachen annehmen und dabei der Worte des Herrn Jesus eingedenk sein muss; denn er hat selbst gesagt: ‚Geben ist seliger als Nehmen.‘“ (So in der besonders wortgetreuen Bibelübersetzung von Hermann Menge.)

Der „Quantensprung“

Komplex ist die Sache mit dem „Quantensprung“, der seit Jahren immer wieder in den diversen Medien auftaucht. Dieses Wort ist hier kein Begriff. Denn es wird verwendet für auffällige, große und jähe Veränderungen. Bezogen auf die eigentliche Sphäre dieses Begriffs in der Physik ist das völliger Unsinn. Tatsächlich vollziehen sich Quantensprünge in winzigen, subatomaren Dimensionen. Sie sind also ziemlich genau das Gegenteil vom im Jargon Gemeinten, also etwa der „große Sprung“ nach vorwärts (mit leerem Beutel). Das haben schon viele kritisch vermerkt, die etwas von Quantenphysik und Quantenmechanik verstehen.

Die Gründe für die inflationäre Verwendung dieses Begriffs werden dagegen kaum diskutiert. Es steht wohl vage eine Ahnung im Hintergrund vom Hegelschen „qualitativen Sprung“, dessen Sinn dem Gemeinten näher kommt. Da dieser Bezug den qualitätsmedialen Sprachröhren des Zeitgeists entweder unbekannt oder wegen der Nachfolge bei Marx und Engels mit dem Umschlag von Quantität in eine neue Qualität verhasst ist, weichen sie in den harmlosen, nicht-dialektischen „Quantensprung“ aus. Es klingt dann auch noch nach Bildung. Der Anschein, zumal der besonders hochangesehene naturwissenschaftliche, ist für die inflationäre Verwendung dieses Worts mit verantwortlich. Doch mit der Quantität der Gehirnzellen, Neuronen und Synapsen ist es bei den Mainstream-Meinungsmachern meist nicht gut bestellt, von der Qualität zu schweigen, die sich einer „marktkonformen“ Gehirnwäsche verdankt. Darum ist der Quantensprung so beliebt, weil mit diesen Denkwerkzeugen und -inhalten keine großen Sprünge zu machen sind. (Analog dazu schätzen die Regierenden und ihre Ohrenbläser die „Schwarze Null“ auch deshalb so sehr, weil unter ihnen die Nullen ziemlich zahlreich sind.)

Ironischerweise stimmt die weitverbreitete Idiotie mit den „Quantensprüngen“ manchmal sogar auf verquere Weise doch, wider Willen und Absicht der davon Redenden. „Parturient montes et nascitur ridiculus mus“ schreibt der römische Dichter Horaz in seiner Poetik, der Ars Poetica: „Die Berge werden kreißen und eine lächerliche Maus wird geboren werden.“ Bei Shakespeare heißt das dann „Viel Lärm um nichts“. So war der angebliche riesige „Quantensprung“, energiepolitisch statt auf Öl, Kohle, Uran auf erneuerbare Energien zu setzen, in der Sache richtig, in der amtlichen Intention und Zwecksetzung aber wohl eher propagandistisch, und insofern praktisch so etwas wie der bekannte metaphorische Sprung von jemand, der als Tiger ansetzt und als Bettvorleger endet. Auch der „Panthersprung nach Agadir“ von 1911, bei dem Wilhelm II. das Kanonenboot „Panther“ losschickte, um seinen kolonialen Einfluss zu behaupten und Frankreich herauszufordern und damit die Zweite Marokkokrise auslöste, endete mit einer diplomatischen Bauchlandung. Inzwischen wird bei der „Energiewende“ hierzulande denn auch kräftig „zurückgerudert“, da die Wende zur „Kriegstüchtigkeit“ traditionelle Energien bevorzugt. Auch der Wechsel von einer zur nächsten Regierungskoalition ist tatsächlich in vieler Hinsicht, vor allem im Hinblick auf die Qualität des Regierens, ein „Quantensprung“ im quantitativen Sinne des naturwissenschaftlichen Begriffs.

Richtig verwendet dagegen ist der eigentlich gemeinte Begriff im Zusammenhang mit Hafenarbeiterstreiks in Frankreich und Italien. Die Verhinderung einer Lieferung von Waffen nach Israel war „das Ergebnis eines qualitativen Sprungs in den internationalen Beziehungen – ausgelöst durch das Treffen der Hafenarbeiter am 28. Februar in Athen. Ein großartiger Moment, auch weil an diesem Tag eine Million Arbeiter beim vom PAME ausgerufenen Generalstreik auf der Straße waren“, so Luca De Crescenzo im Gespräch mit José Nivoi in der „jungen Welt“ vom 9. August.

„Geld in die Kassen spülen“

Der Kern vieler Phrasen ist, dass bei ihnen – meist veraltete – Metaphern eine Lebendigkeit, Sinnlichkeit, Konkretheit und Realitätsnähe suggerieren, die grade nicht vorhanden ist. Mit Federn als Stellvertretung für Schreibwerkzeug schreibt niemand mehr, auch nicht die „Edelfedern“, allenfalls ein paar hartnäckige Konservative mit dem Füllfederhalter. Metaphern, bildhafte Vergleiche durch Analogien zwischen verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit, gehören zum Wesen der Sprache. Bei den Phrasen tritt aber das Bild verschleiernd vor die Sache. Wenn „Geld in die Kassen gespült“ oder „in die Hand genommen“ wird, denke ich immer an Dagobert Duck, der in seinen Talerchen badet. Wie schon die Bezeichnung „Taler“ zeigt, eine Währung, die es nicht mehr gibt, nurmehr in der sprachlich verwandelten Form als „Dollar“, handelt es sich bei der Disney-Figur um einen nostalgischen Griff in die „Mottenkiste“. Und gemünztes Geld ist nicht mehr die gesellschaftlich entscheidende Art des Geldes. Die „im Geld schwimmen“ – was in den computerisierten Daten der Konten, auf denen das Giralgeld elektronisch gespeichert ist, noch schwieriger wäre –, das sie sich durch Aneignung unbezahlter fremder Arbeit erwerben konnten, werden immer mehr. Proportional dazu wächst die Zahl derer, denen „alle Felle davonschwimmen“ und die noch die schlecht bezahlten Arbeitsplätze verlieren.

Auf dem infantilisierten Disney-Niveau bewegt sich die meiste bürgerliche ökonomische Ideologie. Sie folgt dem real herrschenden Fetischcharakter der Ware, des Gelds, des Kapitals blind und verblendend und fasst Gesellschaftliches als Natur. Mit dem Kopfsprung in das Geld-Plantschbecken wird an der Oberfläche abstraktes, dürres Zahlenhaftes sozusagen saftig-sinnlich gemacht, das tiefer liegende Wesentliche aber damit umso mehr verdeckt. Dass der Dollar, der Euro, „DIE“ Wirtschaft und so weiter „schwächeln“, ist eine Übertragung von Begriffen für Lebendes auf die „tote Arbeit“. Das schon im Spätabsolutismus bekannte hässliche Wort hat wohl der „Spiegel“ etwa seit den 1990ern in Umlauf gebracht. Zu dergleichen biologisierten und personalisierten gesellschaftlichen Sachverhalten passt die Vorstellung, dass ein „Greenback“ („grüner Rücken“, die grün bedruckte Rückseite von Dollarscheinen) vor dem „Ground Zero“ steht und sich ans Herz greift in einem plötzlichen Schwächeanfall … – es ist herz- und hirnerweichend.

Wenn nicht genügend Geld in die staatlichen Kassen gespült wird, ist die Konsequenz, dass der Geldhahn abgedreht wird – gern vor allem für soziale Projekte und Soziales oder Kulturelles überhaupt: „Geldhahn bleibt zu“ („junge Welt“, 14./15. Mai 2011). Am meisten wird in die Kassen gespült, wenn die „Kommunen“ kommunale, also öffentliche Dienste, staatliches Eigentum privatisieren, gern in Form der PPP, der „Private-Public-Partnership“. Diese machen, entgegen den verlogenen Behauptungen, damit würde gespart, alles grundsätzlich teurer. Denn privates Kapital muss zusätzlich Gewinn bringen – bei Bahn oder Post wird das aufdringlich klar. Bei der Privatisierung der Wasserwerke wie in Berlin – wo die Wasser- und Spülungsmetaphorik zur Sache gehört – hätte die Stadtregierung die Verträge, statt sie zu unterschreiben, am besten in handliche Größen, etwa DIN A6, zerschneiden und vor der Klosettspülung einem sinnvollen Verwendungszweck zuführen sollen; oder sie im Reißwolf schreddern lassen und damit trotz einer gewissen Ressourcenvergeudung immerhin noch für neues Papier recycelt.

„Geld in die Hand nehmen“

Wenn die Währung, die Konjunktur, ein „systemrelevanter“ Konzern schwächelt, oder die Schäden an Infrastruktur oder sozialen Diensten so unübersehbar und bedrängend sind, dass sie rasch repariert werden müssen, muss der Staat „Geld in die Hand nehmen“. Da spucken sich dann in den „Redaktionsstuben“ (die in Wahrheit eher Groß- oder Kleinraumbüros als ländlich-völkische „Stuben“ sind) die Kopflangerinnen der Herrschaft in die Hände, packen es an und fordern Subventionen, am liebsten für die armen Monopole, oder Entschädigungen für diese. Die „energieintensive Industrie“, Chemie, Stahl, Aluminium, Papier vor allem, hätte – wegen Abschaltung der lebensbedrohenden Atomkraftwerke – „nach den Berechnungen der Energiebranche rund 1,5 Milliarden Euro Mehrkosten pro Jahr zu schultern.“ („Der Spiegel“ 17/2011) Wir sehen förmlich die armen Stahlindustriemanager unter der Last der Geldscheine ächzen, die sie dann, wenn es denn so weit überhaupt käme, in die Kassen der ihrer AKWs beraubten Energiemonopole spülen müssen …

Solche Folgeschäden des Fetischcharakters des Denkens und Sprechens sind zum einen komisch, weil sie die Dummheit der Phrasendrescher zutage fördern. Auch das ist eine Metapher, aus dem Bergbau, das andere aus der Landwirtschaft; „leeres Stroh“ dreschen, also sinnlos, da ohne Körner, gehört auch zu diesem Wortfeld. Das reale Dreschen des Korns ist längst mechanisiert bis automatisiert. Zum andern ist es gar nicht komisch, weil es ein falsches Bewusstsein und Denken sowohl ausdrückt als auch fördert.

Münz- und Papiergeld, das wir tatsächlich noch in die Hand nehmen können, dient eher für kleinere Transaktionen – von dem handelsüblichen Schmiergeld, wo es jedenfalls bei Firmen um erheblich größere Summen geht, natürlich abgesehen. Möglicherweise hat die verbreitete Rede der Medienleute und der Politikerinnen und Politiker vom „Geld in die Hand nehmen“ so noch einen ganz anderen, sprachlich wie sachlich wie psychologisch tiefenstrukturellen Grund. Es kommt dabei darauf an, wer das tut und wofür. Die Vorstellung, einen Packen von Geldscheinen im Wert von einer Million Euro „in die Hand zu nehmen“, „bar“, also „nackt“, und etwa für die Bezahlung zusätzlicher Kindergärtnerinnen und Kindergärtner auszugeben, ist absurd und völlig unrealistisch. Geht es aber darum, dieselbe Summe als Schmiergeld oder für irgendwelche kriminellen Handelstransaktionen zu übergeben, wird das ganz realistisch. Insofern jedenfalls wächst im Zeichen „struktureller Korruption“ in diesem „Geld in die Hand nehmen“ doch wieder zusammen, was zusammengehört. Eine schmutzige Hand wäscht die andere. Im verlogenen Ausdruck der Phrase kommt so, wie beim „Quantensprung“, einmal mehr ein Stück Wahrheit an die Oberfläche.

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"Verschleiern, biologisieren, angeben", UZ vom 26. Dezember 2025



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