Genau eine Woche nachdem die Europäische Union in ihrem 17. Sanktionspaket Einzelpersonen, die durch „russlandfreundliche“ Kommentare in den sozialen Medien aufgefallen waren, unter Kuratel (Anm.: Vormundschaft) gestellt hatte, schwärmten am 27. Mai vermummte Beamte des Bundeskriminalamts frühmorgens aus, um Objekte in Königs Wusterhausen (Brandenburg) und Berlin-Friedrichshain zu durchsuchen. In einem gesonderten Verfahren der Generalbundesanwaltschaft fand auch in Dresden eine Hausdurchsuchung statt. Vorwurf dort: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland („Volksrepublik Lugansk“). Die Rede ist von der „allgemeinen prorussischen Einstellung des Beschuldigten“ und der Lieferung von Hilfsgütern in den Donbass.
Zwei Haftbefehle gegen Vereinsmitglieder der „Friedensbrücke – Kriegsopferhilfe e. V.“, die Vereinsgründerin Liane Kilinc und Klaus Koch, hatten die Fahnder in Berlin auch in der Tasche. Die Festnahme scheiterte allerdings, da sich die beiden Aktivisten schon einige Zeit nicht mehr in Deutschland aufhalten. Einen Tag vor der Durchsuchungsaktion war der 84. Transport von Hilfsgütern der „Friedensbrücke“ von Berlin in den Donbass auf den Weg gebracht worden. Zur Mittagszeit am 28. Mai, bevor die Bundesanwaltschaft, die die Haft- und Durchsuchungsbefehle beantragt hatte, mit der Auswertung der „Beweismittel“ begann, lief über den Ticker der russischen Nachrichtenplattform „NIA“ die Meldung, dass Liane Kilinc vom Gouverneur des zentralrussischen Nischni Nowgorod die Einbürgerungsurkunde entgegennahm. Kilinc: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mich die gestrigen Ereignisse nicht beeindruckt haben. Das zeigt deutlich die Position Deutschlands und sieht in gewisser Weise wie eine Kriegserklärung aus (…) Eine neue Situation, neue Chancen und Möglichkeiten – auch für unsere Arbeit zur Unterstützung des Donbass und zur Stärkung der Freundschaft mit Russland.“
Wie das Bundesministerium der Justiz der Plattform „nachdenkseiten.de“ mitteilte, „lag eine Verfolgungsermächtigung des Justizministeriums“ vor. Eine solche Spezialermächtigung ist zur Verfolgung von Straftaten gemäß Paragraf 129b Strafgesetzbuch zwingend notwendig. Die Mitglieder der Friedensbrücke sollen durch Hilfslieferungen und Spendenaktionen zwischen 2015 und 2022 die Volksrepubliken Donezk (DVR) und Lugansk (LVR) in illegaler Weise unterstützt haben. Da geht es unter anderem um Maschinenöl, das als „Dual-Use“-Gut generell auch für Militärfahrzeuge nutzbar sei. Dementsprechend lässt sich auch denken, dass Lebensmittel, Spendengelder, Nähmaschinen, Krankenrollstühle und Ähnliches von einer „Terrororganisation“ durchaus zweckentfremdet werden können.
Die abenteuerliche Konstruktion basiert auf der Grundannahme, die DVR und die LVR seien von 2015 bis 2022 keine staatlichen Entitäten, sondern schlicht „terroristische Vereinigungen“ gewesen. Mit dieser Einschätzung ist Deutschland – wie so oft – allein auf weiter Flur. Weder die USA noch andere NATO-Staaten haben die DVR oder die LVR bislang auf die Liste der Terrororganisationen gesetzt. Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat in seinem Urteil vom 31. Januar 2024 (Verfahren: Ukraine gegen Russische Föderation) klargestellt, dass weder die DVR noch LVR als terroristische Organisationen eingeschätzt werden dürfen. Ein paar Wochen nach dieser Entscheidung formulierte die Bundesanwaltschaft zum ersten Mal die konträre Position: Mitte April 2024 war in deren Presseerklärung zu lesen, „die deutsch-russischen Staatsangehörigen Dieter S. und Alexander J.“ seien wegen „Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung Volksrepublik Donezk (VRD)“ festgenommen worden.
Folglich hat auch der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof, der den Haftbefehl seinerzeit erließ, diese Rechtsauffassung gebilligt. In der Zeit des stetigen Hineingleitens des deutschen Strafrechts in ein Kriegsrecht, das klar definiert, wer nicht für uns ist, ist gegen uns, markiert die Verfolgung der Mitglieder der Friedensbrücke eine weitere Etappe im Abbau demokratischer Rechte.
Im Jahr 2012 konnte man in einer Publikation der gesichert nicht russlandfreundlichen „Humanistischen Union“ einen Aufsatz zu den bedenklichen Weiterungen des deutschen Strafrechts lesen, betitelt mit „129b StGB: Neue Terroristen braucht das Land“. Der Text schlussfolgert, dass sich mit Verfolgungsermächtigung durch den Bundesminister der Justiz sämtliche „Zweifelsfragen dann nach außenpolitischem Gusto lösen“ lassen. Damals war’s einen Anflug von Ironie wert, heute ist daraus Ernst geworden. Die Zeit ist wohl vorbei, als man sich auf das Grundgesetz verlassen konnte. In Artikel 103 Absatz 2 Grundgesetz heißt es, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit bereits gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Wie der Fall „Friedensbrücke“ lehrt, kann heutzutage das Justizministerium per Dekret rückwirkend die Strafverfolgung für Handlungen in den Jahren 2015 bis 2022 auslösen, von denen vor zehn Jahren niemand ahnen konnten, dass sie einmal strafbar sein könnten.