Zum Attentat auf Charlie Kirk

Alte Muster

Als die Feiern zur Gründung des deutschen Reiches 1871 abgeklungen waren, sahen sich Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Otto von Bismarck nicht nur mit einer hartnäckigen Wirtschaftskrise, sondern auch mit einem stetigen Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung konfrontiert. Schlimmer noch: Innerhalb dieser Bewegung setzten sich nach heftigen Auseinandersetzungen die Gedanken von Karl Marx und Friedrich Engels immer mehr durch. Bismarck ließ daraufhin Gesetze vorbereiten, mit denen sozialistische und kommunistische Vereinigungen und die Verbreitung ihrer Ideen verboten werden sollten.

Da es im Reichstag für eine solche Unterdrückungsorgie keine Mehrheit gab, wartete der schlaue Kanzler auf einen Anlass. Der schien gekommen, als am 11. Mai 1878 der arbeitslose Klempnergeselle Max Hödel ein Attentat auf den Kaiser und seine Tochter Luise verübte. Er schoss zwar vorbei, aber als das Gerücht gestreut wurde, der Attentäter sei Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, zog der Kanzler die vorbereiteten Gesetze aus der Schublade und begründete sie mit dem Hinweis auf das Attentat. Peinlich: Der Klempnergeselle war zwar mal Mitglied der Sozialisten, aber wegen Unterschlagung von Parteigeldern aus der Partei geflogen. Bismarck bekam für seine Gesetze keine Mehrheit im Reichstag. Als kurze Zeit später, am 2. Juni 1878, ein zweites Attentat auf Wilhelm I. erfolgte und der von 30 Schrotkugeln getroffen wurde, löste Bismarck den Reichstag auf, half beim Anheizen einer heftigen Empörungswelle, durch die sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament änderten, und peitschte im Herbst desselben Jahres seine Sozialistengesetze durch den Reichstag.

Die Versuche der US-Regierung, die Ermordung von Charlie Kirk zum Vorwand für eine massive Verschärfung der Repressionen gegen linke Organisationen und Gesinnungen in den USA zu nutzen, ähneln den Bemühungen Bismarcks, das erste Attentat gegen den Kaiser als Vorwand für die Installation der Sozialistengesetze zu nutzen. Auch weil der Attentäter aus republikanischem Stall kam, verebbte die vom Weißen Haus dirigierte Empörungswelle. Trump und seine Leute werden auf ihren 2. Juni warten, um von der Kette zu lassen, was sie an Plänen gegen alles Linke in den Schubladen liegen haben.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Alte Muster", UZ vom 26. September 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit