Merkels Partner Erdogan sichert sich mit Verfassungsänderung noch mehr Macht

Angst wird Normalzustand

Von Rüdiger Göbel

Präsident Recep Tayyip Erdogan ist dabei, den seit vergangenem Juli geltenden Ausnahmezustand in der Türkei zu verewigen. Die Herrschaft per Dekret wird zum Normalzustand, die Gewaltenteilung Geschichte. Im Blitztempo hat die Große Nationalversammlung der Republik Türkei mit den Stimmen der regierenden islamistischen AKP und der faschistischen MHP gerade binnen einer Woche ihre Selbstentmachtung durchgeprügelt – wortwörtlich: Am Ende kam es zu Prügeleien mit der verbliebenen Opposition. „Unser Parlament hat Selbstmord begangen. Mein Beileid“, twitterte der international bekannte Journalist und frühere Chefredakteur der Oppositionszeitung Cumhuriyet, Can Dündar. Im Frühjahr soll das Volk den Willen des Präsidenten gutheißen. Es reicht eine einfache Mehrheit.

Der Präsident steht dann nicht nur der neuen Regierung vor, er kann nach Gusto Ministerien kreieren und per Dekret regieren. Das Parlament darf kritische Nachfragen an den Vizepräsidenten und die Minister richten – schriftlich. Der Staatschef bekommt zudem deutlich mehr Einfluss auf die Justiz. Richterstellen und Staatsanwaltsposten können nicht mehr an ihm vorbei besetzt werden.

Dabei liegt der Rechtsstaat ohnehin am Boden. Rund 4000 Richter und Staatsanwälte wurden in den vergangenen sechs Monaten unter dem Vorwurf verhaftet, sie würden zur verbotenen Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen gehören. 3000 von ihnen sitzen weiterhin in Haft. Unter dem seit Juli 2016 geltenden Ausnahmezustand sind die „unabhängigen Inseln in der Justiz weit geringer geworden“, konstatiert Metin Feyzioglu, Präsident der Union der türkischen Anwaltskammern (UTBA), gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Viele der entlassenen Richter seien durch Referendare ohne jegliche Berufserfahrung ersetzt worden, die nun teilweise völlig überfordert seien.

Die türkische Anwaltskammer hatte gegen die Verfassungsänderung zusammen mit 100 weiteren Vereinen und Gewerkschaften zu Protesten vor dem Parlament aufgerufen. Die Führung in Ankara ließ Panzer und Wasserwerfer auffahren, Demonstranten wurden mit Tränengas und Polizeiknüppeln verjagt.

Ihr Protest ist mutig in Zeiten wie diesen. Im Interview mit der Tageszeitung „junge Welt“ beschrieb Sakine Esen Yilmaz, die frühere Generalsekretärin der türkischen Bildungsgewerkschaft Egitim Sen, die Gefahrenlage für Linke und Gewerkschafter in Erdogans neuem Reich. „Ihre Versammlungen sind stets bedroht, von Selbstmordattentätern des IS mit tödlichen Bomben angegriffen zu werden. Sie haben Angst um ihr Leben. Nur wer auch das riskiert, traut sich noch auf die Straße, um öffentlich zu protestieren. Es herrschen das große Schweigen, Unsicherheit, Angst und Hoffnungslosigkeit. Selbst wer seine Meinung im Internet äußert, ist gefährdet, dass Erdogans Polizei gegen ihn ermittelt. 1 600 Menschen sind deshalb festgenommen worden.“

Nicht jeder Gewerkschafter ist automatisch Erdogan-Gegner. Die Gewerkschaftsdachverbände Türk-Is und Hak-Is sind regierungsfreundlich und konform. Mit nationalistischen Phrasen halten sie ihre Basis zusammen. Lediglich DISK, der Bund Progressiver Gewerkschaften, kann als unabhängig von politischen Parteien und von der Regierung gelten. „Wir unterstützen alle demokratischen Bewegungen in der Türkei, und deshalb verurteilen wir die Verhaftungen der HDP-Politiker auf das schärfste“, bekräftigt Eyup Ozer, internationaler Sekretär der vereinten Metallarbeitergewerkschaft (Birlesik Metal-Is) die zum linken Dachverbande DISK zählt. Allein, die Mobilisierung fällt schwer. „Aber die gesellschaftliche Stimmung in der Türkei ist geprägt von Angst, die Gesellschaft ist in eine Schockstarre verfallen. Die Menschen sind so schockiert über die Ereignisse, dass bisher keinem oppositionellen Akteur eine Mobilisierung auf der Straße gelingt.“

Seine Kollegin Yilmaz aus dem Bildungssektor ergänzt: „Lässt Deutschland seine Abkommen über Waffenexporte und gegenseitige Wirtschaftsinteressen mit der Türkei weiterlaufen, als wäre nichts geschehen, hilft es Erdogan, seine grausamen Ziele zu verfolgen. Unsere demokratische Bewegung fordert wirtschaftliche Sanktionen und ein Waffenembargo. Viele deutsche Gewerkschafter teilen unsere Meinung. Wir wünschen uns, dass Menschen in Europa dies auf die Straße tragen. Belegschaften von Firmen, die Waffen und Wirtschaftsgüter an die Türkei liefern, könnten in ihren Produktionsstätten aktiv werden.“

Noch halten sich die Gewerkschaften in Deutschland mit öffentlichkeitswirksamen Positionierungen zurück. Eine der wenigen Ausnahmen ist die GEW in Düsseldorf, die sich Ende Dezember mit dem Dachverband der türkischen Gewerkschaften im öffentlichen Dienst (KESK) solidarisch erklärt hatte. Wichtiger für die Solidarität mit den Kolleginnen und Kollegen in der Türkei wird sein, Druck auf die deutsche Regierung aufzubauen. Denn Kanzlerin Merkel hält ungeachtet von Ausnahmezustand, Mediengleichschaltung und Oppositionsausschaltung zum Autokraten Erdogan.

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"Angst wird Normalzustand", UZ vom 27. Januar 2017



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