Nach der Eingemeindung großer stadtangrenzender Wohngebiete und der Gründung Großberlins 1920 verfügte die Stadt über zehn Bezirke und eine sozialdemokratische Mehrheit im Rathaus.
Aufgrund der starken fortschrittlichen Gewichtung in der Berliner Lokalpolitik und dem kämpferischen Engagement der proletarischen Eltern wurden in Berlin und besonders in den Arbeiterbezirken zahlreiche weltliche Schulen durchgesetzt. Diese teilreformerische Bildungspolitik, die die kaum veränderten Konfessionsschulen als Regelschulen beibehielt, kam durch die sozialdemokratischen Oberstadtschulräte Wilhelm Paulsen (1921 bis 1924) und Jens Nydahl (1926 bis 1933) und dem Neuköllner Volksbildungsrat Kurl Löwenstein (USPD/SPD; 1921 bis 1933) zustande, die in den einzelnen neu entstehenden Schulen auch ihre eigenen Reformvorstellungen umsetzen wollten.
Weltliche Schulen
Die weltlichen Schulen wurden offiziell Sammelschulen genannt, weil an ihnen alle Kinder gesammelt wurden, die nicht am Religionsunterricht teilnahmen. In Berlin richtete die Stadtverwaltung 1920 die ersten Schulen ohne Religionsunterricht in Neukölln, Treptow, Reinickendorf und Lichtenberg ein.
Der anfängliche Unterschied der weltlichen Volksschulen zu den bisherigen konfessionellen Schulen war der Verzicht auf Religionsunterricht und stattdessen die Einführung des Faches „Lebenskunde“.
Ebenso wurden das Schulgebet und religiöse Inhalte aus dem Unterricht entfernt. Nach und nach erprobten die Lehrkräfte aber auch neue Erziehungspraktiken und zeitgemäße Unterrichtsthemen, wodurch die Schulen weitere fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer anzogen. Hierbei kamen unterschiedliche bürgerliche Ansätze zur Umsetzung, die der Ausrichtung und den Fähigkeiten der Lehrkräfte und Direktorinnen oder Direktoren entsprachen. Grundsätzlich wandten sich die Reformen gegen autoritären Drill und Frontalunterricht.
Die Schulreform bot auch die Möglichkeit der Koedukation, so dass Mädchen und Jungen an einer Schule und in einer Klasse unterrichtet werden konnten. Gemeinsamer Unterricht war anfangs nur mit Sondergenehmigung an Modellschulen möglich. Das Angebot wurde aber nicht vollständig ausgeschöpft, so dass zahlreiche Mädchen beziehungsweise Jungenklassen erhalten blieben. Nach und nach entstanden immer mehr gemischte Klassen und selbst die Regelschulen verzichteten auf geschlechtsgetrennten Unterricht.
Lebensgemeinschaftsschulen
Eine besondere Ausprägung der Reformschule waren die Lebensgemeinschaftsschulen. Sie wurden von der Berliner Schulbehörde ausgewählt und galten als wichtige Schulversuche. Von den weltlichen Schulen in Berlin, die vorwiegend Volksschulen waren, erhielten 1923 zehn Schulen diesen Status. Die von dem aus Hamburg berufenen Stadtschulrat Wilhelm Paulsen entwickelten Vorstellungen bildeten das pädagogische Konzept der Berliner Lebensgemeinschaftsschulen. Sie waren nicht mehr an Lehrpläne gebunden, sondern arbeiteten flexibel nach Leistung und Interesse der Kinder.
Die Klassenverbände konnten aufgehoben und Allgemeinwissen in festen Gruppen und Fachwissen in Arbeitsgruppen gelehrt werden. Der Unterrichtsstoff war weniger in einzelne Fächer unterteilt, sondern fand eher übergreifend statt. Der Unterricht sollte von einer freundlichen Atmosphäre und das Verhältnis zwischen den Kindern und Lehrkräften kameradschaftlich geprägt sein.
Mitbestimmung
Neben den Veränderungen des Unterrichts wurde auch die Struktur der Schule neu organisiert. Eltern und Kinder waren fortan stärker in die Entscheidungsstrukturen eingebunden. Gemeinsam mit den Lehrkräften bildeten sie die Schulgemeinde. Elternvertreter organisierten sich in einem Elternausschuss, Schülervertreter der oberen Klassen in einem Schülerausschuss. Sie übten vorrangig eine beratende Funktion aus. Die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer erhielten mehr Eigenverantwortlichkeit. In Neukölln wurden die 31. und die 32. weltliche Gemeindeschule in der Rütlistraße 1923 zu Lebensgemeinschaftsschulen.
Mit dem Status einer Lebensgemeinschaftsschule erweiterte sich das Einzugsgebiet auf alle Stadtbezirke, so dass auch zahlreiche Kinder aus anderen Bezirken kamen. Außerdem schickten neben Arbeitereltern auch Intellektuelle und Künstler ihre Kinder auf die Rütli-Schule, um ihnen eine fortschrittliche Erziehung zu ermöglichen. 1921 besuchten 1.400 Schüler die 31. Schule, bei einem Klassendurchschnitt von etwa 50 Kindern. In den weiteren Jahren sank die Zahl jedoch deutlich ab.
Scheitern
Noch vor der Auflösung durch die deutschen Faschisten 1933 scheiterte der Versuch der Lebensgemeinschaftsschule in der Rütlistraße. Ursächlich dafür war eine Verknüpfung mehrerer Faktoren: Die starken Kürzungen der staatlichen Zuschüsse führten zum Abbau der Arbeitsgemeinschaften, zur Reduzierung der Lehrkräfte und zu einer hohen Kinderzahl in den Klassen. Hinzu kamen durch Arbeitslosigkeit und Armut entstandene Probleme in den Familien. Die Schülerinnen und Schüler sahen keine Perspektive mehr für ihr Leben und verloren die Motivation zu lernen und sich in eine Gemeinschaft einfügen zu wollen, da nach der Schule nur die Arbeitslosigkeit und soziale Verelendung warteten.
Das Gefühl der Perspektivlosigkeit führte bei den Kindern und Jugendlichen zu Verhaltensänderungen wie Diebstählen, demonstrativer Leistungsverweigerung und zunehmender Aggressivität. Der Schule gelang es aufgrund ihrer eigenen Misslage nicht, die Probleme zu mindern und neue Perspektiven aufzuzeigen.
Außerdem lähmten die erbitterten Auseinandersetzungen der beiden großen Arbeiterparteien, die vor allem in den Elternvertretungen ausgetragen wurden, ein einheitliches Vorgehen der Schule.
Und schließlich griffen die Presseorgane der erstarkten Reaktion und stärker werdenden Bewegung der Faschisten die Rütli-Schule unentwegt an. Diese Situation spitzte sich 1932 weiter zu, als die Anmeldungen für die 32. Schule stark zurückgingen und die Aufrechterhaltung einer eigenständigen Schule gefährdeten. Entscheidend für diese Entwicklung war der 1929 erfolgte Abgang des Rektors, der in Braunschweig eine Professur annahm. An ihm hatten viele Eltern den musisch-literarischen Schwerpunkt der Schule festgemacht. Andererseits verloren die künstlerischen Aspekte angesichts der Wirtschaftskrise an Gewicht. Vermutlich nutzte die Schulbehörde die insgesamt schlechte Lage der Lebensgemeinschaftsschulen, um im Winter 1932/1933 allen zehn bestehenden Versuchsschulen diesen Status zu entziehen und sie zu weltlichen Schulen zurückzustufen. Dabei wurde die 32. Schule aufgelöst und die Kinder und die Lehrkräfte auf die beiden anderen Schulen verteilt.
Die Texte auf dieser Seite stammen aus der Broschüre „Schulreform und Schulkampf in Neukölln 1919 bis 1951“. Sie wurde vom Arbeitskreis Geschichte der DKP Neukölln erarbeitet und ist dort erhältlich: berlin.neukoelln@dkp.de


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