Zur Aktualität des Kampfs gegen die „Sozialistengesetze“

Bismarcks Staatsumbau

Angesichts des Grauens der Jahre 1933 bis 1945 ist es zwar verständlich, wenn vor allem diese Zeit sofort vor dem geistigen Auge aufblitzt, sobald sich Repressionen gegen fortschrittliche Kräfte verstärken. Das darf aber nicht den Blick auf die beiden Grundtatsachen verstellen, dass nicht jede Kriegsvorbereitung des Faschismus bedarf und dass derzeit aus der Sicht der Herrschenden – international wie auch national – die Erfahrungen mit der offenen Diktatur eines Teils des Finanzkapitals noch nicht unbedingt zur Wiederholung einladen.

National, also in der jüngeren deutschen Geschichte, gab es vor diesem Einschnitt bereits zwei Perioden, in denen sich die herrschende Klasse entschlossen hatte, gegen die von ihr ausgebeuteten Klassen „ganz andere Saiten aufzuziehen“, wie es jovial bei ihren Zusammenkünften nach dem Dinner wohl formuliert wurde. Die eine Periode war die der Jahre der Vorbereitung des Ersten Weltkriegs und seiner Entfaltung. In ihr wiederum griffen die Herrschenden auf die Erfahrungen zurück, die sie in der Phase der sogenannten „Sozialistengesetze“ gemacht hatten. Sie ist insofern bedeutsam, als darin natürlich auch von unserer Seite, der Seite der ausgebeuteten Klassen, Erfahrungen gesammelt wurden, die in unsere politische Werkzeugkiste Eingang gefunden haben und dort zum Teil der Wiederentdeckung harren. Deshalb lohnt ein Blick in diese Jahre von 1878 bis 1890.

Der historische Hintergrund ist schnell skizziert: Gleich nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 sahen sich dessen Kaiser Wilhelm I. und sein Reichskanzler Otto von Bismarck mit einer hartnäckigen Wirtschaftskrise und – damit verbunden – einem stetigen Anwachsen der sozialdemokratischen Bewegung konfrontiert, die sich zu allem Übel mehr und mehr den revolutionären Gedanken von Karl Marx und Friedrich Engels zuwandte. Bismarck ließ daraufhin Gesetze vorbereiten, mit denen sozialistische und kommunistische Vereinigungen und die Verbreitung ihrer Ideen verboten werden sollten. Im Reichstag gab es für eine solche Unterdrückungswelle allerdings nicht sofort eine Mehrheit. Ein Attentat auf Wilhelm I. half eine mediale Empörungswelle zu erzeugen und bot Anlass, den Reichstag aufzulösen, wodurch sich die Mehrheitsverhältnisse im Parlament änderten. So war der Weg freigemacht für diese in der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit fortan „Sozialistengesetze“ genannten Bestimmungen, die im Oktober 1878 im „Reichsgesetzblatt“ verkündet wurden. Die Sozialdemokratische Partei sah sich auf breiter Front in die Illegalität gedrängt. Zwar wurden die Mandate im Reichstag und in den Landtagen nicht kassiert, aber – zunächst befristet auf zweieinhalb Jahre – alle sozialdemokratischen Organisationen, die der Partei nahestehenden Gewerkschaften und ihre Publikationen verboten. Verstöße wurden mit hohen Geld- und Gefängnisstrafen geahndet. Hunderte Sozialdemokraten wurden aufgrund des Paragrafen 28 des Gesetzes als „Agitatoren“ aus ihren Heimatorten ausgewiesen, tausende aus den Betrieben entlassen. Einige gingen ins Exil, wo sich seit 1848 bereits Marx und andere Kommunistinnen und Kommunisten aufhielten. Andere – vor allem die Abgeordneten wie Wilhelm Liebknecht oder August Bebel – blieben auf ihren Posten.

Die Partei stand vor der schwierigen Aufgabe, legale und illegale Formen der Arbeit miteinander zu verbinden und eine Antwort auf das Verbot ihrer Zeitungen – unter anderem des programmatisch tonangebenden „Vorwärts“ – zu finden. Einige – wie der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasselmann – propagierten als Antwort auf Bismarck eine Taktik des individuellen Terrors und gaben zur Förderung solcher Aktionen das Blatt „Freiheit“ heraus. Marx und Engels entfalteten eine intensive Brief- und Gesprächstätigkeit, um der damals noch revolutionären Sozialdemokratie zu helfen, eine präzise und der Lage angemessene Reaktion auf diesen – wie wir heute vielleicht sagen würden – Umbau des bürgerlichen Staatsapparats zu finden. Am 1. April 1880 schrieb Engels in einem Brief an Johann Philipp Becker: „Die ‚Freiheit‘ soll mit aller Gewalt das revolutionärste Blatt der Welt werden, aber das bringt man damit nicht fertig, dass man das bloße Wort Revolution in jeder Zeile wiederholt.“

Die Hauptgefahr aber kam nicht von anarchistisch-individualterroristischer Seite. Sie kam vom Rechtsopportunismus. Seine um Eduard Bernstein herum gruppierten Kräfte wollten, juristisch auf Privatpersonen gestützt, eine neue Zeitung in Zürich herausgeben und dabei auch Marx und Engels in ein solches Blatt einbinden. Ihre schroffe Antwort erteilten die beiden in einem „Zirkularbrief“ an die damalige Parteispitze. Leider ist er ein wenig in Vergessenheit geraten – zu Unrecht, denn er enthält wichtige grundsätzliche Anmerkungen zu Strategie und Taktik in Zeiten, in denen revolutionäre Kräfte unter Druck von rechts kommen. Vor allem arbeiteten die beiden Gründer des wissenschaftlichen Sozialismus dort die strikte Notwendigkeit heraus, alle Politik in jeder Situation unbeirrt von den Inte­ressen der Arbeiterklasse abzuleiten und auf sie zu bauen. Sie lehnten es folglich ab, in einem Blatt zu publizieren, in dem auch die Position gedruckt wurde, der deutsche Sozialismus habe „zu viel Wert auf die Gewinnung der Massen gelegt und dabei versäumt, in den sogenannten oberen Schichten der Gesellschaft energische Propaganda zu machen“. Beide lästerten: „Kurz: Die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu befreien. Dazu muss sie unter die Leitung ‚gebildeter und besitzender‘ Bourgeois treten, die ‚allein Gelegenheit und Zeit haben‘, sich mit dem vertraut zu machen, war den Arbeitern frommt. Und zweitens ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch energische Propaganda – zu gewinnen.“ Konsequent forderten sie in einer solchen Situation nicht weniger, sondern mehr zugespitzten Klassenkampf und die Festigkeit, sich nicht auf Nebenkampfplätze abdrängen zu lassen – und sie verwiesen darauf, die Notwendigkeit des revolutionären Bruchs unbeirrt in den Mittelpunkt des Handelns der Partei zu stellen: „Inzwischen wendet man seine ‚ganze Kraft und Energie‘ auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. (…) Es sind die Repräsentanten des Kleinbürgertums, die sich anmelden, voll Angst, das Proletariat, durch seine revolutionäre Lage gedrängt, möge ‚zu weit gehn‘. Statt entschiedner politischer Opposition – allgemeine Vermittlung; statt des Kampfs gegen Regierung und Bourgeoisie – der Versuch, sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Misshandlungen von oben – demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient. Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Missverständnisse und alle Diskussionen beendigt mit der Beteuerung: In der Hauptsache sind wir ja alle einig.“ In diesen Fragen, so betonten Marx und Engels, dürfe es kein Wanken geben: „Wir haben seit fast 40 Jahren den Klassenkampf als nächste treibende Kraft der Geschichte, und speziell den Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat als den großen Hebel der modernen sozialen Umwälzung hervorgehoben …“

4710 Plakat Sozialistengesetz 1890 - Bismarcks Staatsumbau - Otto von Bismarck, Sozialistengesetze - Theorie & Geschichte
Von der Ausweisung aus Leipzig bis zur Rückkehr aus dem Exil: Plakat aus dem Jahr 1890 zum Fall des Sozialistengesetzes. (Bild: gemeinfrei)

Darauf hinzuweisen ist heute deshalb wichtig, weil vor uns – diese Prognose sei hier gewagt – eine Phase ähnlicher jäher Wendungen liegt, in denen die Linke in Deutschland mit Verzweiflungs-Liebäugelei Richtung individuellem Terror einerseits und vor allem mit Anbiederungsempfehlungen an den sogenannten Zeitgeist andererseits zu kämpfen haben wird.

Die auf den ersten Blick etwas komplizierte Dialektik gegenwärtiger ideologischer Kämpfe besteht darin, dass die Rechtsentwicklung teilweise im Gewand eines seines Klasseninhalts entleerten Antifaschismus um die Ecke kommt, der sich, historisch verdreht und verkürzt, bezogen auf die Phase 1933 bis 1945 der Phrase „Nie wieder!“ bedient.

Die Herrschenden des imperialistischen Deutschlands planen mindestens derzeit keinen neuen Januar 1933. Die von ihnen nach Kräften medial und politisch geförderte Erstarkung der AfD erfüllt momentan eher die Funktion, die in dieser Partei wirkenden faschistischen Kräfte als Instrument für die forcierte Rechtsentwicklung zur Vorbereitung ihres großen Krieges gegen Russland und China einzusetzen. Faschismus an der Macht und Faschismus als Instrument sind unterschiedliche Dinge. Die Spezifik der jetzigen Situation besteht darin, dass die AfD zwei Funktionen gleichzeitig erfüllt: Sie wird als Treibmittel eingesetzt, um die Koordinaten der Innen- wie der Außenpolitik immer weiter nach rechts zu verschieben – und gleichzeitig als Schreckgespenst, um mit Verweis auf die vermeintliche Wiederholung des Januar 1933 eine Nebelwand zu ziehen, hinter der materiell und ideologisch der Krieg gegen Russland und China und damit den Kern der BRICS-Staaten vorbereitet wird, welche die alte Vormacht des USA/EU-Blocks immer deutlicher zu gefährden beginnen.
Der Verweis auf die nach mühsamen Auseinandersetzungen durchgesetzte Klarheit im Kampf gegen die „Sozialistengesetze“ ist deshalb nützlich, weil im „Zirkularbrief“ bereits die Ankerpunkte herausgearbeitet wurden, an denen sich jeder in Sturm, Nebel und Gewitter immer noch orientieren kann: Vertrauen auf die und strikte Orientierung an den Inte­ressen der Arbeiterklasse, keine Anbiederung an Regierung und Bourgeoisie, fester Blick auf die sozialistische Revolution als historische Mission der Arbeiterklasse.

Eine vorletzte Anmerkung noch: Wer unhistorisch die Blaupause 1933 als Messlatte für heutige Politik anlegt, wird konsequenterweise diese Orientierung auf die eigene Klasse zurückzustellen haben. Es liegt ja auf der Hand: Wenn – in verkürzter Rezeption des VII. Weltkongresses – wirklich eine offene Diktatur nicht des Kapitals, nicht des Finanzkapitals, sondern eines Teils des Finanzkapitals, also eines Teils eines Teils des Kapitals, für die nächsten Jahre drohen würde, müssten die revolutionären Kräfte auch heute einen Schulterschluss mit anderen Teilen des Kapitals, ja sogar Teilen des Finanzkapitals suchen, um diese Gefahr für Leib und Leben abzuwehren. Diejenigen, die das empfehlen, sollten dann auch erklären können, wie das mit einem scharfen Klassenkampf gegen alle anderen Teile des Kapitals noch vereinbar sein soll. Es ist völlig klar: Dieser Klassenkampf hätte zurückzustehen. Das aber wäre genau das, wogegen Marx und Engels zu Recht angesichts der deutschen „Sozialistengesetze“ so vehement gekämpft haben.

Wer eine Ahnung haben will, was uns tatsächlich bevorsteht, muss nur die gegenwärtigen Meldungen aufmerksam lesen und wird dabei verwiesen auf das Jahr 1968, also das Jahr der Einführung der westdeutschen Notstandsgesetze, die nach der Einverleibung der DDR nun in ganz Deutschland aktuelle Rechtslage sind. Die von Kräften der CDU in den letzten Wochen immer häufiger öffentlich vorgetragene Erwägung, doch bitte den „Spannungsfall“ auszurufen, ist keine freischwebende Wortspielerei. Der Begriff ist vielmehr der juristische Schlüssel zur Scharfschaltung dieser Notstandsgesetze. Ihre Anwendung wäre eine Verschärfung des militaristisch-reaktionären Staatsumbaus, der die viel größere, aktuell naheliegende und bereits praktisch sichtbare Gefahr für alle Fortschrittskräfte ist. Sich mit den Notstandsgesetzen näher zu beschäftigen ist daher dringend geboten.

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"Bismarcks Staatsumbau", UZ vom 21. November 2025



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