Helmut Schmidt und Erich Honecker waren sich einig: „Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen.“ Als sie vor fünfzig Jahren in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichneten, hatten die Diplomaten aus 35 Staaten jahrelang verhandelt. Keineswegs umsonst. Denn es war nicht geschossen worden.
Jahrzehntelang hatte die Sowjetunion für ein europäisches Sicherheitssystem gekämpft. Moskau wollte einen Krieg verhindern, bekam aber von den Westmächten arrogant die kalte kapitalistische Schulter gezeigt. Mit dem Potsdamer Abkommen und der Gründung der UNO nach dem Weltkrieg eröffnete sich die Chance für eine kontinentale wie auch globale Sicherheitsstruktur. Die Hoffnung starb schon bald im Kalten Krieg. Mit dem Atombombenmonopol, das die USA barbarisch in Hiroshima und Nagasaki demonstriert hatten, wähnte sich der Westen militärisch überlegen und widersetzte sich Regelungen einer friedlichen Koexistenz. Erst nachdem ein militärstrategisches Gleichgewicht hergestellt und auch Washington sich bewusst war, den Krieg des Westens gegen den Osten nicht gewinnen zu können – Breschnew formulierte es pointiert: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter –, begannen Gespräche für ein kollektives Sicherheitssystem.
Helsinki 1975 war darum in erster Linie ein Sieg der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Deren ausdauernde Bemühungen um Vertrauen, um ein friedliches Miteinander von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen waren von Erfolg gekrönt. Damit verlor der Imperialismus zwar nicht seinen grundsätzlichen Charakter. Aber er war mindestens eingehegt, an die Kette gelegt, zu einem vernünftigen Miteinander gezwungen worden.
Der Untergang der Sowjetunion und seiner Verbündeten ließ alle Schranken fallen. Der Imperialismus kehrte zu seiner alten Geschäftsordnung zurück. Der Krieg wurde wieder zum Mittel der Politik. Seit mehr als dreißig Jahren nun schon versuchen die USA und ihre Vasallen eine neue globale Weltordnung durchzusetzen. Mit der Gewalt der Wirtschaft und der Waffen, mit Sanktionen und mit Kriegen. Die USA haben inzwischen erreicht, was sie immer wollten: Russland und Deutschland zu entzweien. Das birgt die Gefahr eines dritten Weltkrieges in sich.
12 Prozent der Weltbevölkerung – so viele leben in der „wertebasierten Ordnung“ des Westens –, wollen mit allen Mitteln der Mehrheit der Welt vorschreiben, wie sie zu leben hat. Doch diese Mehrheit lässt sich das immer weniger gefallen. Was wir einst ein System kollektiver Sicherheit nannten, heißt heute Multilateralismus. Es ist die kollektive Antwort auf das Bestreben einer Weltmacht im Niedergang, sich die Erde untertan zu machen.
Dass es möglich ist, mit Beharrlichkeit und diplomatischem Geschick selbst Größenwahnsinnige an den Verhandlungstisch zu bringen, sie zum Überdenken und Umdenken zu bringen, hat die KSZE überzeugend bewiesen. Helsinki hat gezeigt: Mit Ausdauer, Prinzipientreue, Flexibilität und Diplomatie ist vieles möglich. Helsinki ist darum nicht nur Geschichte, sondern könnte Zukunft sein, wenn diese Erfahrungen in der Gegenwart aktiv genutzt werden würden. Das Problem ist, dass die jetzt Regierenden das Erbe von Helsinki, damit auch die Friedensinitiativen von Brandt, Schmidt und Kohl, durch Hochrüstung und Kriegsbereitschaft verspielen. Dieser Weg ist gefährlich und muss im Interesse des Friedens korrigiert werden.