Mohammad Omidvar (Tudeh-Partei) zu den Protesten im Iran

Das Regime ist nicht antiimperialistisch

Günter Pohl und Melina Deymann

Nach dem Mord an Mahsa Amini im September entbrannten im Iran Proteste, die immer noch anhalten. Über deren Ursachen und die politische Bedeutung des Iran sprach UZ mit Mohammad Omidvar, dem Sprecher der Tudeh-Partei des Iran und Mitglied ihres Politbüros.

UZ: Im Iran ging es bei den Protesten schnell nicht mehr nur um den Mord an Mahsa Amini, sondern um die allgemeine Situation der Frauen im Land. In welcher Weise sind die Rechte der Frauen eingeschränkt, abgesehen von der Kleiderordnung?

Mohammad Omidvar: Um die Wurzeln und Ursachen des aktuellen Aufstandes gegen das reaktionäre Regime im Iran zu verstehen, muss man sehen, dass es in den letzten zwei Jahren immer mehr soziale Unruhen und Proteste gegeben hat. Angefangen von einer wachsenden Zahl von Arbeiterstreiks in verschiedenen Industriezweigen (die bekanntesten sind der lange Streik im „Haft-Tapeh“-Agroindustriekomplex in Susheh, der Streik bei der Heavy Equipment Production Company in Arak und der von Tausenden von Vertragsarbeitern in der Öl- und petrochemischen Industrie) über Streiks und Proteste von Lehrern in fast allen Städten Irans bis hin zu Protesten von Zehntausenden von Rentnern. Hauptursache für das Wachsen der Proteste war die sich verschlechternde Wirtschaftslage aufgrund der neoliberalen Politik des Regimes, die von der Weltbank und dem IWF unterstützt und gelobt wird, sowie die kriminellen US-Sanktionen. Regierungsstatistiken zufolge leben mehr als 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und die Arbeitslosigkeit, insbesondere unter der Jugend, liegt bei bis zu 70 Prozent. Hinzu kommen die weit verbreitete, beispiellose Korruption und die zunehmende Unterdrückung der demokratischen Rechte und Freiheiten der Menschen, insbesondere nach den Scheinwahlen von 2021 und der Einsetzung von Ibrahim Raisi als Präsident, einem der „Todesrichter“ bei dem Massaker an Tausenden von politischen Gefangenen im Iran 1988. Unter den Hingerichteten befanden sich Hunderte von Führern und Kadern unserer Partei sowie einige der bekanntesten Schriftsteller, Gewerkschafts- und Studierendenaktivisten des Iran.

In den letzten vier Jahrzehnten wurden die Frauen im Iran auf das Unmenschlichste behandelt. Ähnlich wie bei den reaktionären Herrschern in Saudi-Arabien und unter den Taliban in Afghanistan werden den Frauen ihre grundlegenden Menschenrechte verweigert, darunter das Recht, über ihren Körper zu bestimmen und ihre Kleidung selbst zu wählen. Dazu gehören:

  • Heirat: Die Islamische Republik hat das Heiratsalter für Mädchen zunächst auf 9 Jahre herabgesetzt. Im Jahr 2002 hob das Parlament dieses Alter auf 13 Jahre an
  • Scheidung: Eine Frau kann die Scheidung nur vor Gericht mit einem richterlichen Beschluss erwirken, während ein Mann die Scheidung mündlich einreichen kann
  • Sorgerecht: Das Sorgerecht für Kinder wird automatisch dem Mann oder seiner Familie zugesprochen. Eine geschiedene Frau verliert das Sorgerecht für ihre Kinder, wenn sie wieder heiratet, auch wenn ihr Mann gestorben ist
  • Reisen: Eine verheiratete Frau kann ohne die schriftliche Zustimmung ihres Mannes weder einen Reisepass beantragen noch ins Ausland reisen
  • Erbschaft: Eine Witwe erbt nur 12,5 Prozent des Nachlasses ihres Mannes, ein Witwer erbt jedoch den gesamten Nachlass seiner Frau. Ein Sohn erbt doppelt so viel wie eine Tochter
  • Berufe: Frauen ist der Zugang zur Justiz und die Kandidatur für das Präsidentenamt untersagt
  • Segregation: Von der Schule bis zur Universität und im Gesundheitswesen sind Frauen von Männern getrennt. Im Gesundheitsbereich (Zugang zu Ärztinnen) hat dies zu erheblichen gesundheitlichen Problemen für Frauen geführt, insbesondere in ländlichen Gebieten.

Es erübrigt sich zu erwähnen, dass viele religiöse Führer im Iran in den letzten Jahren Frauen als „halbe Menschen“ bezeichnet haben, da sie nicht über die gleiche Intelligenz verfügen würden wie Männer.

Die Frauen im Iran fordern Freiheit von den mittelalterlichen und reaktionären Gesetzen des islamistischen Regimes, die sie in einer Vielzahl von Bereichen diskriminieren.

UZ: Wie beurteilst du die Solidaritätsbekundungen, insbesondere von Politikerinnen aus der EU? Sind sie hilfreich für den Kampf um die Rechte der Frauen im Iran?

Mohammad Omidvar: Was unsere Partei betrifft, so glauben wir fest an die internationale Solidarität von Arbeitern und kommunistischen Parteien und fortschrittlichen Kräften überall mit dem Kampf des iranischen Volkes und, in den letzten Wochen, mit dem heroischen Kampf von Frauen, Jugendlichen und Studenten gegen das despotische Regime im Iran. Wir glauben auch, dass der US-Imperialismus und die EU-Führer nicht das Interesse des iranischen Volkes im Sinn haben. Ihre Politik ist darauf ausgerichtet, ihre strategischen Ziele in der Region zu erreichen. Die Geschichte, einschließlich des Staatsstreichs von 1953 im Iran durch die CIA und den britischen MI6, durch den die gewählte Regierung von Dr. Mosaddegh gestürzt und das Marionettenregime des Schahs wieder eingesetzt wurde, sowie die Hinrichtung und Inhaftierung von Tudeh-Mitgliedern hat gezeigt, dass der von den USA geführte Weltimperialismus Marionettenregime will, um das Land auszuplündern und Militärstützpunkte in der Region zu errichten, um seine hegemonialen Ziele voranzutreiben.

UZ: Der Iran wird von vielen Menschen – unabhängig von dem dort herrschenden Regime – als eine Bastion im internationalen, antiimperialistischen Kampf gegen die NATO, die EU und die USA gesehen. Zugleich werden dort fortschrittliche Kräfte, nicht zuletzt Mitglieder deiner Partei, unterdrückt und verfolgt. Wie siehst du diese komplizierte Situation?

Mohammad Omidvar: Wir sind der Meinung, dass das Regime im Iran vom Klassenstandpunkt aus gesehen die Interessen der Handels- und der bürokratischen Bourgeoisie vertritt, die einem kapitalistischen System dienen. Die politische Struktur dieses kapitalistischen Systems im Iran basiert auf dem „politischen Islam“, in dem der „Oberste Führer“ des Regimes der „Vertreter Gottes auf Erden“ ist und daher über allen Gesetzen und juristischen oder Regierungsstrukturen steht. Das Regime hat sich in den letzten vierzig Jahren einer antiimperialistischen Rhetorik bedient, um seine regionalen und internationalen Ziele durchzusetzen. Es ist erwähnenswert, dass vor den umfassenden Sanktionen der größte Teil des iranischen Handels mit dem Westen abgewickelt wurde. Während des imperialistischen Krieges gegen den Irak im Jahr 2003 unterstützte der Iran die Invasion und gestattete den Flugzeugen der USA und der NATO die Nutzung des iranischen Luftraums. Selbst auf dem Höhepunkt der Revolution trafen sich die iranischen Machthaber heimlich mit Oberst Oliver North in Teheran und vereinbarten, die USA im Kampf gegen die sandinistische Regierung in Nicaragua zu unterstützen (Iran-Contra-Skandal). Es ist auch erwähnenswert, dass die Führer des Regimes ihren Wunsch nicht leugnen, das „Islamische Reich“ in der Region und darüber hinaus wiederherzustellen. Die Politik des Regimes umfasst die Unterstützung der reaktionärsten Kräfte in der Region, angefangen von der Einmischung in den Irak über die Unterstützung der Taliban in Afghanistan bis hin zur Einmischung in einigen der ehemaligen Sowjetrepubliken.

Kurz gesagt, das Regime im Iran ist ein reaktionäres kapitalistisches Regime, dessen einziges Interesse darin besteht, an der Macht zu bleiben. Die iranische Führung glaubt weder an das Konzept des „Imperialismus“ noch akzeptiert sie es und hat sich bei Bedarf als starker antikommunistischer Verbündeter des Westens erwiesen. Die Attacke auf unsere Partei im Jahr 1983 wurde mit Hilfe der CIA, des MI6 und des türkischen MIT durchgeführt. Mitte 1982 wurden zwei hochrangige Beamte des Regimes nach Pakistan eingeladen, wo sie mit Vertretern des britischen MI6 zusammentrafen, die ihnen Koffer mit gefälschten Informationen über die Organisation und die Aktivitäten der Tudeh-Partei übergaben. Diese Informationen dienten zur Vorbereitung des Angriffs auf unsere Partei am 6. Februar 1983. Die Londoner „Times“ begrüßte am folgenden Tag in einem Leitartikel die Unterdrückung von Tudeh durch das Regime.

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"Das Regime ist nicht antiimperialistisch", UZ vom 28. Oktober 2022



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