Nachdenken über Frieden beginnt heute mit Russland. Schließlich soll Russland unser Feind sein und mehr noch werden.
Doch was hat dieses Land uns angetan? Deutschland hat es in den vergangenen 200 Jahren drei Mal überfallen, Russland uns hingegen kein einziges Mal. Russland ist das größte Land der Erde und hat alles im Überfluss: Mineralien, Öl, Gas, Holz, Gold, Platin, Diamanten. Aus welchem Grund sollte Russland Deutschland überfallen? Um unsere maroden Brücken, schlaglochgespickten Straßen, verkommenen Eisenbahnen und niedergehenden Industrien zu besichtigen? Das macht keinen Sinn!
Sinn macht das Feindbild Russland nur für diejenigen, die Krieg führen und davon profitieren wollen. Ohne Feind läuft Kriegstüchtigkeit ins Leere.
Man kann die russische Politik oder den Ukraine-Krieg kritisieren – aber Feindschaft? Russland wird immer unser europäischer Nachbar sein. Wir können uns nicht auf auseinanderdriftende Kontinentalplatten verabschieden. In dieser Lage ist gute Nachbarschaft die bessere Lösung.
Die Menschen in Russland und den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion hätten allen Anlass, Deutschland und Deutsche über Generationen zu verachten. Noch vor ihrem Überfall 1941 hatte die Führung der Wehrmacht den sogenannten Hungerplan für die Sowjetunion ausgearbeitet. Er sah den Hungertod von 30 Millionen Sowjetbürgern vor. Wo deutsche Soldaten und SS ihren Fuß hinsetzten haben sie gebrandschatzt, gemordet, vergewaltigt, Ernten vernichtet, Vieh erschossen, Häuser und Fabriken in Schutt und Asche gelegt. Sogar noch auf ihrem Rückzug erfüllte die geschlagene Wehrmacht den Befehl, nur verbrannte Erde zu hinterlassen.
Das wissen all diejenigen genau, die heute verächtlich über Russland herziehen oder so reden, als befänden wir uns bereits im Krieg. Das ist zum Glück noch (!) nicht der Fall. Aber schon werden hierzulande US-amerikanische Hyperschallraketen und an der russischen Grenze deutsche Truppen stationiert. Die Gesellschaft verarmt materiell und kulturell, während sie über Aufrüstung, Wehrpflicht, den Operationsplan Deutschland auf Krieg vorbereitet und der Korridor des öffentlich Sagbaren immer schmaler wird.
Das ist das Ergebnis von Russophobie, jenem antislawischen Rassismus mit verbrecherischer Vergangenheit. Die Decke über diesem Teil deutscher Geschichte war offensichtlich dünner, als es nach Entspannungspolitik (West) beziehungsweise brüderlicher Freundschaft (Ost) schien.
Es gab in der Alt-BRD ab Mitte der 1980er Jahre den berüchtigten Historikerstreit, ausgelöst durch Professor Ernst Nolte. Er reklamierte für Deutschland das „Recht auf Vergessen“ seiner jüngeren Geschichte und Verständnis für die Motive zum Völkermord an den europäischen Juden. Hitler und seine Umgebung seien getrieben von der Angst, dass ihnen ein unmenschlicher Feind – der Bolschewismus – dasselbe antäte, deshalb hätten sie ihn nachgeahmt. Nolte wörtlich: „War nicht der ‚Archipel Gulag‘ ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der ‚Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ‚Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ Zum Historikerstreit gehörte auch Helmut Kohls und Ronald Reagans „Versöhnung über den Gräbern“ auf der Kriegsgräberstätte in Bitburg, auf der auch Angehörige der Waffen-SS begraben sind.
Diese Kontroversen verloren sich bald in den Tänzen zur deutschen Einheit ohne gesellschaftlichen Konsens zur jüngeren deutschen Vergangenheit. Antislawischer Rassismus ist wieder hoffähig und Bundeskanzler Merz die personifizierte Wiedergeburt der deutschen Großmannssucht. Auch wenn sich Geschichte nicht wiederholt: Der Schoß ist fruchtbar noch.