Der vergessene Holocaust

Helmut Manz

In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten 4.300 Sinti und Roma, die im KZ Auschwitz-Birkenau noch am Leben waren, mit Hunden und Flammenwerfern in die Gaskammern getrieben. Niemand überlebte.

Der 2. August ist seit 2015 Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma. 500.000 von ihnen fielen dem deutschen Faschismus zum Opfer. Das Bündnis Dortmund gegen Rechts gedenkt ihrer mit einer Kranzniederlegung am Gedenkstein in der Weißenburger Straße/Ecke Gronaustraße.

Wir dokumentieren den Redebeitrag von Helmut Manz zu diesem Anlass:

„Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassistischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen sind als Völkermord anzusehen.“

Mit diesen Worten von Bundeskanzler Helmut Schmidt wurde am 17. März 1982 der Völkermord an den Sinti und Roma als Völkermord anerkannt. Am 16. März 1997 stellte Bundespräsident Herzog unmissverständlich klar:

„Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden.“

Am 27. Januar 2011 sprach Zoni Weisz als erster Sinto vor dem deutschen Bundestag. In seiner Rede nannte er den Völkermord an den Sinti und Roma den „vergessene(n) Holocaust“.

Ein vergessener Holocaust? In unserem auf der Würde des Menschen gegründeten Rechtsstaat mit seiner vorbildlichen Erinnerungskultur? Anspruch und Wirklichkeit können weit auseinanderklaffen. Der vergessene Holocaust hat einen Namen: Das Romanes-Wort „Porajmos“ – auf Deutsch: das Verschlingen. In Deutschland, dem Herkunftsland des Porajmos, ist dieser Name nur sehr Wenigen ein Begriff. Nach einer 2014 durchgeführten repräsentativen Studie gehören Sinti und Roma zur unbeliebtesten Minderheit in Deutschland. Der Antiziganismus ist nicht annähernd so geächtet wie der Antisemitismus. Das Feindbild hat den Völkermord ungebrochen überlebt.

Diskriminierung heißt auf Deutsch: Sonderbehandlung. „Sonderbehandlung“ war das Schreibtischtäterwort für Mord. Die Grenzen sind erschreckend fließend. Das zeigt die Vorgeschichte des Völkermords. Zwischen 1900 und 1933 wurden im Deutschen Reich etwa 150 „Sonderverordnungen“ gegen sogenannte „Zigeuner“ oder „nach Zigeunerart“ lebende Personen erlassen. Besonders beschämende Beispiele sind das bayrische „Gesetz zur Bekämpfung von Zigeunern, Landfahrern und Arbeitsscheuen“ von 1926 und das hessische „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ von 1929.

1936 wurde in Berlin eine „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ eingerichtet. Diese Abteilung der Reichskriminalpolizei organisierte den antiziganistischen Völkermord im Reichsgebiet. In enger Zusammenarbeit mit einem Institut des Reichsgesundheitsamts: der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“. „Rassenhygiene“ war die Perversion der Medizin zum Mordinstrument. 1938 war in der Zeitschrift des NS-Ärztebundes zu lesen: „Ratten, Wanzen und Flöhe sind auch Naturerscheinungen, ebenso wie die Juden und Zigeuner. (…) Alles Leben ist Kampf. Wir müssen deshalb alle diese Schädlinge allmählich ausmerzen.“

Zu diesem „rassenhygienischen“ Zweck konzentrierte sich die Forschungsstelle auf die Erfassung von sogenannten „Zigeunermischlingen“. Es wurden umfangreiche Körpermessungen vorgenommen und Stammbäume erstellt. Die eigene Erkenntnis, dass es für die unterstellte „Rasse“ keine „einheitliche Körperkonstitution“ und somit auch keine „Körperbaumerkmale“ gibt, konnte dem blutrünstigen Rassenwahn nichts anhaben. Man griff auf die ermittelten Stammbäume zurück, erklärte bestimmte Vorfahren zu „Vollblutzigeunern“ und errechnete aus dem Verwandtschaftsverhältnis einen Mischlingsgrad im Sinne der Rassegesetze. Die Einstufung als „ZM“ für Zigeunermischling war ein verkapptes Todesurteil.

Am 8. Dezember 1938 stellte Himmler in einem Runderlass eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse“ in Aussicht. In diesem Erlass ist bereits ausdrücklich von der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede. Während des zweiten Weltkriegs wurde auch diese „Endlösung“ immer hemmungsloser in die Tat umgesetzt. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion wurden Roma wie Freiwild von den Einsatzgruppen gejagt und vom Kleinkind bis zur Greisin ermordet. Himmlers Auschwitz-Erlass vom 16. Dezember 1942 markiert eine Etappe – nicht den Beginn – des Porajmos. Nach allem, was wir heute über den faschistischen Vernichtungskrieg im Osten und auf dem Balkan wissen, dürfte die vom Zentralrat der Sinti und Roma angenommene Zahl von 500.000 Opfern wohl kaum übertrieben sein.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.



UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
Unsere Zeit