100 Jahre Novemberrevolution: Die Münchner Räterepublik kämpft um die Macht

Die Arbeiter wollen die Rätemacht

Ein Revolutionär berichtet

Sepp Bauer erinnert sich in den 1970er Jahren an die Revolution

Ich wurde sehr religiös erzogen. Wie ich aber gesehen habe, dass unser Stadtpfarrer Monsignore Widmann in Haidhausen im August 1914 die Waffen gesegnet hat, hat mich das umgeschmissen.

Im September 1914 kam ich zu einem Installateur in die Lehre. Dort hatte ich einen fortschrittlichen Sozialdemokraten als Lehrgesellen, der mich über die politischen Verhältnisse aufgeklärt hat. Auf seine Veranlassung bin ich 1916 in den Deutschen Metallarbeiterverband eingetreten.

Die Kriegsgegner hatten ab 1916/17 regelmäßige Zusammenkünfte. Dort bin ich mit einer Reihe von fortschrittlichen Kollegen, unter anderem dem Buchdrucker Hans Kain und Xaver Freiberger, zusammengekommen. Hans Kain hatte damals, als wir uns noch während des Krieges trafen, bereits Verbindungen nach Bremen. Wir trafen uns damals – nahezu illegal – und setzten uns dafür ein, etwas zu unternehmen.

Später kam ich in die Gießerei der Firma Göckl, die auch Zünder für Granaten herstellte.

Kurz vor Kriegsende wurde ich noch zum Militär eingezogen, kam aber nicht mehr an die Front, sondern blieb in München.

Der Spartakusbund ist in München erst Anfang Dezember 1918 gegründet worden. Es waren nur einige Leute, die sich im Nebenzimmer des Thomasbräukellers trafen. Ich bin erst 2 – 3 Tage später zum Spartakusbund gekommen.

Als Ende Dezember in Berlin die KPD gegründet wurde, haben wir Hans Kain hingeschickt.

Als er zurückkam, gründeten wir im Januar 1919 im Hackerkeller die KPD. Mühsam, Sontheimer und Landauer sind damals mit dem Spartakus geschlossen zur KPD. Die KPD war damals noch sehr unerfahren. Ich war in der Parteigruppe Sendling.

Dann gab es Zwistigkeiten. Der Mühsam zum Beispiel war kein unrechter Kerl, aber Anarchist bis dorthinaus. Von einer Organisation wollte er überhaupt nichts wissen. Von Organisationen und Zellen war überhaupt nichts dringestanden.

Bis dann Leviné von Berlin gekommen ist. Er hat Ordnung hineingebracht. Damals haben wir dann auch die ersten Zeitungen gekriegt. Die „Münchner Rote Fahne“ wurde herausgegeben. Die Redaktion saß in der Baaderstraße im Dachgeschoss. Das Parteibüro war unten im Keller. Es wurden dann auch Betriebsgruppen gegründet.

Die Gründung der Betriebszellen wurde durch Leviné veranlasst. Es gab welche in den Otto-Werken (Freiberger Xaxer), Maffei (dort war unter anderem Hans Beimler).

Regelmäßige Mitgliederversammlungen gab es erst, als sich die Gruppen gebildet hatten.

Ich war dann Ordonnanz beim Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat, der zuerst im Landtag und dann im Wittelsbacher Palais getagt hat. Ich habe dann gemerkt, dass die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte zu uneins waren, um Maßnahmen zu ergreifen.

Nach der Ermordung Eisners waren die Arbeiter wirklich geschlossen revolutionär – aber es haben halt die Kenntnisse gefehlt. Die Partei war zu schwach, um sie alle aufzuklären.

Inzwischen waren Wahlen gewesen, der Landtag war zu 50 Prozent reaktionär. Unsere Partei hat den Fehler gemacht, dass sie nicht kandidiert hat.

Ich war dann bei der republikanischen Schutztruppe im Luitpold-Gymnasium. Dort war das Waffenarsenal. Wir hatten einige Genossen drin. Die ganzen Waffen sind nach Verkündigung der Räterepublik ausgegeben worden.

Es gab zwei bewaffnete Abteilungen: die Rote Armee, die dann in Dachau gekämpft hat, und die Rote Garde, die in der Stadt für Ordnung sorgte; bei der war ich.

Kommandeur der Roten Garde und Stadtkommandant war Egelhofer. Vom Luitpold-Gymnasium wurden die Stadtwachen eingeteilt. Eine Maschinengewehrstellung war am Sendlingertorplatz, wo heute die protestantische Kirche steht. Dort standen Zeitungsstände und Verkaufsstände. Hier hatte der Genosse Herrmann einen Minenwerfer postiert. MG-Schütze war der Genosse Telsenbach, und ich war Zuführer für die Gurte.

Am Sendlingertorplatz haben unsere Genossen von den Häusern auf die weißen Truppen heruntergeschossen, die die Müllerstraße heraufkamen. Wir waren so ziemlich die Letzten, die Widerstand geleistet haben, aber es ist nicht zum Halten gekommen. Der Hermann, unser Geschützführer, hat dann den Minenwerfer mit einer Handgranate in die Luft gesprengt, dabei hat es ihm den Fuß abgerissen. Seine Freundin hat gleich in der Pettenkoferstraße gewohnt, wir brachten ihn hinauf, dort ist er dann gestorben – verblutet. Der Felsenbach ist nach Hause, ich habe dann später erfahren, dass er denunziert und erschossen wurde. Ich selber bin dann auch weg – durch den südlichen Friedhof zum Glockenbach in die Fraunhoferstraße in die Wohnung. Dort habe ich mich schnell umgezogen, bin dann zur Isar hinunter und zum Gasteig, wo ich in der Chorherrstraße eine Freundin hatte. Bei ihr habe ich mich dann versteckt.

Vor 100 Jahren, am 7. April 1919, rufen die Arbeiterinnen und Arbeiter die Räterepublik in München aus. Aus diesem Anlass bilden wir Auszüge aus der Broschüre „100 Jahre Räterepublik in München“ (95 Seiten, Schutzgebühr: 5 Euro, im UZ-Shop erhältlich) der DKP München ab. Der Ausschnitt beginnt nach der Ermordung des ersten Ministerpräsidenten Bayerns, Kurt Eisner (USPD, 1867 – 1919) und dem daraus folgenden Ende der von ihm geführten Regierung und endet mit der Mobilmachung der Konterrevolution unter sozialdemokratischer Führung. Die junge KPD ist nicht Teil der Räteregierung, wird aber zu ihrer konsequentesten Verteidigerin. Sie steht „auf dem Boden des Rätesystems, aber wir haben die Voraussetzungen erst noch zu schaffen, die dies System gewährleisten“.

Die provisorische Regierung existiert nicht mehr, und die Abgeordneten, die am 21. Februar den Landtag konstituieren wollten, sind auseinandergelaufen – aufgeschreckt von den Schüssen im Parlamentsgebäude an der Prannerstraße, die wenige Stunden nach dem Tod Eisners den BVP-Abgeordneten Osel und den Major Jahreiß töten und Eisners Innenminister Auer schwer verletzen.

In Auer sah sein Attentäter Lindner, Mitglied des Revolutionären Arbeiterrats, den eigentlichen Verantwortlichen für den Eisner-Mord; er teilt diese Überzeugung mit Tausenden, bis hin zum Minister Jaffé. Es gibt nur Verdachtsmomente für eine Mitwisserschaft Auers, Beweise nicht. Groß jedenfalls war die Empörung des bayerischen MSPD-Vorsitzenden über Arcos Mordanschlag nicht: Dem verletzten Mörder schickt er einen Blumenstrauß ans Krankenbett – aus reiner Menschlichkeit, wie er treuherzig versichert.

Doch zurück zum Februar 1919. Die Entscheidung über die weitere Entwicklung nach dem Mord an Eisner liegt beim Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat, dessen Zentralrat mit seinen ersten Beschlüssen die Richtung eines möglichen Weiterführens der Revolution aufzeigt: Bewaffnung des Proletariats, Verbot der bürgerlichen Presse, Festnahme von 50 Geiseln aus dem rechtsradikalen Bürgertum.

Angst vor eigener Courage

Als es aber an die Durchführung dieser Beschlüsse geht, bekommen der Zentralrat und der seit dem 25. Februar in München tagende bayerische Rätekongress Angst vor der eigenen Courage. Die Bewaffnung der Arbeiter wird in die Hände des rechten Stadtkommandanten Dürr gelegt. Das heißt den Bock zum Gärtner zu machen.

Am 28. Februar lässt Dürr, unter dem lahmen Protest des Kongresses, eine Reihe linker Delegierter aus dem Sitzungssaal heraus verhaften, am 1. März feuern von Dürr bewaffnete Elemente auf eine KPD-Versammlung auf der Theresienwiese. Drei Menschen werden dabei getötet, mehrere verletzt. Das Presseverbot wird schon nach wenigen Tagen in eine außerhalb Münchens völlig unwirksame Vorzensur umgewandelt und im März ganz aufgehoben. Die Geiseln werden freigelassen.

Je länger, desto mehr erweist sich der Rätekongress als unfähig, mit der ihm zugefallenen Macht etwas anzufangen. Schon vor seinem Zusammentreten haben Vertreter der USPD, der MSPD und der Freien Gewerkschaften eine Absprache getroffen, die auf eine Entmachtung der Räte zugunsten des Landtags hinausläuft.

Revolutionäre Soldaten auf einer Patrouillenfahrt in München am 1. Januar 1919

Revolutionäre Soldaten auf einer Patrouillenfahrt in München am 1. Januar 1919

Anfänge der KPD

Die Bedeutung der Stimmung auf dem Lande ist auch den linken Delegierten nicht voll bewusst. Die wenigen KPD-Mitglieder, die am Rätekongress teilnehmen, machen hier keine Ausnahme. Das ist in gewisser Weise verständlich: Außerhalb Münchens gibt es im Februar noch kaum Sektionen der Kommunistischen Partei; selbst im April existiert in einem so wichtigen Industriezentrum wie Augsburg noch keine KPD-Organisation, viel weniger auf dem flachen Land, wo selbst MSPD und USPD nur schwer Fuß fassen.

Schließlich ist die KPD Ende Februar gerade zwei Monate alt; auch ihr Vorläufer, der Spartakusbund, ist in München erst Anfang Dezember 1918 gegründet worden. Das hindert zwar nicht eine rasche Entwicklung der Anhängerschaft. Schon die Gründungsversammlung des Spartakusbunds am 11. Dezember, an der übrigens auch Eisner teilnimmt, zieht Tausende von Menschen an und findet, wie das noch häufig der Fall sein wird, in mehreren großen Sälen gleichzeitig statt.

Aber diese Massen neigen zunächst dazu, in ihrem heißen Wunsch nach einem Ausweg aus der Misere, in die sie der imperialistische Krieg gestürzt hat, die Stärke des Gegners und die objektiven Schwierigkeiten zu unterschätzen. Die junge Münchner KPD ist für eine intensive ideologische Schulung noch zu schwach; ihr führender Kopf in den ersten Wochen ihres Bestehens, Max Levien, ist ein glänzender Redner, der sein Auditorium über Stunden zu fesseln vermag, doch an revolutionärer Erfahrung und am Verständnis für organisationspolitische Notwendigkeiten fehlt es ihm. So bleibt beispielsweise bis in den März hinein die Trennungslinie zu den Anarchisten hin nur unscharf.

Der Rätekongress dankt ab

Am 8. März macht der Rätekongress seine Selbstentmachtung perfekt: Er beschließt die Wiedereinberufung des Landtags, überträgt einer zu bildenden „rein sozialistischen“ Regierung weitgehende Vollmachten – und löst sich auf.

Am 17 und 18. März tritt der Landtag nun zu zwei Sitzungen zusammen; die Prannerstraße wird zu diesem Zweck festungsartig abgeschirmt. Ohne Diskussion – die entscheidenden Absprachen wurden schon Anfang März hinter verschlossenen Türen getroffen – verabschiedet er das „Vorläufige Staatsgrundgesetz“ und einige Übergangsgesetze. Vor allem aber wählt er eine Regierung. Sie bringt gegenüber dem noch vom Rätekongress eingesetzten Interimskabinett Segitz einen deutlichen Rechtsruck. So wird Professor Jaffé (USPD) zugunsten des parteilosen Bürgerlichen von Merkel aus dem Finanzministerium verdrängt, und als Ministerpräsident wird Johannes Hoffmann, der Kultusminister der Eisner-Regierung, eingesetzt, ein radikaler Gegner jeglicher Zugeständnisse an die Räte.

Münchens Arbeiter votieren für die Rätemacht

Doch wir haben der Geschichte vorgegriffen. Der Machtverzicht des obersten Räteorgans wird vor allem in München und anderen südbayerischen Städten von den Massen nicht akzeptiert. Schon am 25. Februar hatte eine Versammlung von 5 000 Arbeitern, die sich als eine Art Nebenparlament zum Rätekongress verstand, von diesem durch ihren Sprecher Egelhofer unter anderem die „sofortige Ausrufung der Räterepublik“ gefordert; die Stimmung eines Großteils des Münchner Proletariats spiegelt sich in dieser Forderung wider. Deshalb kündigen Dürr und andere rechte Sozialdemokraten an der Spitze der Münchner Polizeibehörden ein Versammlungsverbot und eine nächtliche Ausgangssperre Ende Februar unter dem Titel „Zum Schutze der Räterepublik!“ an.

Die Münchner Arbeiter wollen die Rätemacht – und sie wollen sie umso mehr, als sie sehen, dass die „rein sozialistische“ Regierung Hoffmann nicht in der Lage ist, die drängendsten Probleme der Bevölkerung zu lösen: hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Hunger und Kohlenmangel.

Ungarn – ein Fanal für Räterepublik auch in Bayern

Die Proklamation der ungarischen Räterepublik in der Nacht zum 21. März wird unter diesen Umständen auch für Bayern zum Fanal. Vor allem die Nachricht, dass dort Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam handeln, beeindruckt die Arbeiter Münchens tief. Die Massenstreiks an der Ruhr und im nahen Württemberg Ende März/Anfang April machen zudem deutlich, dass die Reaktion noch keineswegs so fest im Sattel sitzt, wie einige Tage der Friedhofsruhe nach dem blutigen Terror gegen die Berliner Arbeiterschaft glauben lassen mochten. Der Vertreter der Reichsregierung in Bayern telegrafiert am 1. April nach Berlin: „Hier sind durch Budapester Ereignisse radikale Tendenzen stark gewachsen … verfällt Bevölkerung immer stärker spartakistischen Gedanken. Der Ausbruch einer dritten Revolution, die deutliche Spitze gegen das Reich voraussichtlich haben wird, ist in bedrohliche Nähe gerückt. Regierung, die äußersten Ernst der Lage voll einsieht, ist machtlos wegen gänzlichen Fehlens zuverlässiger Truppen und ständigen Nachlinksgleitens der Massen.“

Die Politik der Kommunisten

Hinter dem zum Schutz vor Verfolgung gewählten Pseudonym „Niessen“ verbirgt sich ein bedeutender Führer der jungen KPD: Eugen Leviné. Er ist im Auftrag der Berliner KPD-Zentrale am 5. März nach München gekommen, um am Aufbau der bayerischen Landesorganisation mitzuwirken, und leitet seit dem 17. März die Redaktion der „Münchner Roten Fahne“.

Von Anfang an orientiert er auf eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und nächsten Aufgaben der Partei. In einer seiner ersten Reden vor Münchner Kommunisten betont er:

„Ich habe den Eindruck, als lege man in München zuviel Wert auf die große Politik, als beschäftige man sich zu sehr mit der Frage einer großen Zukunft und vernachlässige darüber das gegenwärtig Notwendige, das dazu bestimmt ist, jene Zukunft einmal zu tragen. Gewiss, wir stehen auf dem Boden des Rätesystems, aber wir haben die Voraussetzungen erst noch zu schaffen, die dies System gewährleisten.

Auf der wirtschaftlichen Basis haben wir unsere Streitkräfte zu sammeln, um unsere politischen Schläge zu führen. Wir haben die revolutionäre Organisation der Arbeiter zu betreiben. Wir haben Arbeiterräte zu bilden aus den Betriebsräten der beschäftigten Arbeiterschaft und der Fülle der Arbeitslosen.“

„Baiern ist Räterepublik“

Am Morgen des 7. April verkünden rote Plakate, unterzeichnet von Ernst Niekisch, dem Zentralratsvorsitzenden: „Die Entscheidung ist gefallen, Baiern ist Räterepublik! Das werktätige Volk ist Herr seines Geschickes.“

Das sind schöne Sätze. Mit der Wirklichkeit haben sie wenig zu tun. Die Räte haben dadurch kein Quentchen mehr Macht als zuvor, die königliche Bürokratie, die schon die Novembertage unbeschadet überstanden hat, kein bisschen weniger. Mit den Worten der „Münchner Roten Fahne“ vom 9. April:

„Alles wie sonst. In den Betrieben schuften und fronen die Proletarier nach wie vor zugunsten des Kapitals. In den Ämtern sitzen nach wie vor die früheren kgl. Wittelsbacher Beamten. An den Straßen die alten Hüter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit dem Schutzmannsäbel. Kein bewaffneter Arbeiter zu erblicken.“

Ein Mitglied des rasch zusammengezimmerten Rats der Volksbeauftragten – der Bauernbündler Steiner – bringt das Kunststück fertig, gleichzeitig Mitglied der nach Bamberg geflüchteten Hoffmann-Regierung zu sein; ein anderer Bauernbündler, der Justizbeauftragte Kübler, wird später bekunden, nur zur „Verhütung von Schlimmerem“ in die Räteregierung eingetreten zu sein. Der anfängliche Ratsvorsitzende Dr. Lipp – er wird gewählt, „da man sonst nicht wusste, wen man wählen sollte“ – erweist sich rasch als Wirrkopf, der durch bombastisch-lächerliche Telegramme in alle Welt die Räteregierung kompromittiert; mit dem Freigeldtheoretiker Silvio Gesell ist das Finanzressort kaum viel glücklicher besetzt.

Selbst Niekisch und Toller, Landauer und Mühsam, den führenden Köpfen dieser „Scheinräterepublik“, wie sie die KPD nennt, fehlt es an einer klaren, praktisch umsetzbaren Konzeption; sie stürzen sich auf das Entfernteste, die „Sozialisierung der Universität“, und vernachlässigen das Nächstliegende und Notwendigste, den Aufbau einer wirklichen Rätemacht. Ihrer Hilflosigkeit halb bewusst, blättern sie gelegentlich in Dekreten der russischen oder ungarischen Räteregierungen, ahmen sie nach – ohne die Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen diese entstanden sind.

Arbeiterfrauen und -kinder warten auf die Ausgabe rationierter Lebensmittel.

Arbeiterfrauen und -kinder warten auf die Ausgabe rationierter Lebensmittel.

Hilfe gegen Wohnungsnot

Und doch: Die Masse der arbeitenden Bevölkerung Münchens wünscht sich keineswegs die Zustände vor Ausrufung der Räterepublik zurück.

Die erste Räteregierung trifft einige Maßnahmen zugunsten der kleinen Leute, die nicht bloßes Papier bleiben. Das gilt für das Bankwesen, wo ein „Revolutionärer Bankrat“ die politisch motivierte Kapitalflucht durch die Festlegung von Höchstabhebungsbeträgen unter anderem bremst; am spürbarsten aber wird es für die Wohnungssuchenden. Der bereits vom Rätekongress eingesetzte Wohnungskommissar Dr. Wadler (USPD) bemüht sich seit Ende Februar energisch, die Wohnungsnot zu lindern. Da er aber von der Hoffmann-Regierung nicht anerkannt wird, fällt es den städtischen Behörden leicht, sich gegen seine Anordnungen stur zu stellen. Das ändert sich jetzt: Wadlers Verordnung zur „Beschlagnahme und Rationierung der Wohnungen“ zeigt Wirkung.

Dem Hausbesitzer wird jegliches Einspruchsrecht gegen die Einquartierung von Wohnungssuchenden entzogen; der Wohnungsbedarf wird genau rationiert. Häuser dürfen nur noch mit Zustimmung der Gemeinde verkauft werden, die Mietpreise werden bei Streitigkeiten von den Gemeinden festgesetzt – unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse der Mieter. Erstmals gelingt es – und selbst das rätefeindliche Münchner Wohnungsamt muss das später zugeben –, wenigstens einen Teil der schon lange vorgemerkten Wohnungssuchenden unterzubringen.

Die Unternehmer können zahlen

Die großen Unternehmen, vor allem der Rüstungsindustrie, haben im Krieg auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung ungeheure Profite gemacht; so nutzen die Arbeiter jetzt die Gunst der Stunde – nämlich die Angst der Bourgeoisie vor Sozialisierung – und verlangen in sehr vielen Betrieben Kriegsgewinnanteile, Entschuldungsbeiträge, Teuerungszulagen. Und sie erhalten sie.

In einem Unternehmen der Metallbranche werden knapp 100000 Mark, in einem anderen knapp 50000 Mark auf einmal ausgezahlt, in einem dritten setzt die Arbeiterschaft die einmalige Zahlung von 100 bis 200 Mark pro Kopf durch; in einer Farbenfabrik bekommt jeder Angestellte 800, jeder Arbeiter 500 Mark.

Lohnsteigerungen wie noch nie

Die Metallindustriellen – eben noch haben sie gejammert, dass ihre Kasse leer sei und die gewerkschaftlichen Forderungen ihren sicheren Untergang bedeuten würden – können plötzlich bezahlen. Sie unterzeichnen einen Tarifvertrag, in dem die bis dahin höchsten Sätze in der deutschen Metallindustrie festgelegt werden; einzelnen Arbeitergruppen bringt er Lohnsteigerungen von bis zu 80 Prozent. Nachdem damit bewiesen ist, dass selbst die angeblich notleidende Metallindustrie beträchtliche Reserven hat, kommt es zu sehr erfolgreichen Lohnbewegungen auch in anderen Branchen – so im Holz- und Baugewerbe, bei den Buchdruckern, die unter anderem eine Arbeitszeitverkürzung von 48 auf 44 Stunden durchsetzen, beim Verkehrspersonal sowie im Bergbau. Am 8. April kann der Verein Münchner Berufsjournalisten den ersten Journalistentarifvertrag der deutschen Geschichte abschließen.

Hoffmann wird aktiv

Deshalb marschiert die Konterrevolution anfangs ohne größeres Blutvergießen. Bis zum 8. April hatten sich fast ganz Südbayern und – mit Ausnahme von Nürnberg – alle größeren Städte Bayerns der Räterepublik angeschlossen. Am 10. April stehen aber von den nordbayerischen Städten nur noch Schweinfurt und Hof hinter ihr.

Südbayern hofft Hoffmann durch wirtschaftliche Maßnahmen in die Knie zwingen zu können: „Wir haben die Absicht, Südbayern von Kohlen abzusperren. Wir sind entschlossen, rücksichtslos die Donaulinie abzuriegeln“, erklärt er. Daneben laufen rege Kontakte zu den Gegnern der Räteregierung in München – zur Bürokratie, zur örtlichen SPD-Führung, zur Thule-Gesellschaft, dem wichtigen Kommunikationszentrum der Konterrevolution.

Und zu Teilen des Militärs. Schon am 11. April drängt der Reichspräsident Ebert die Bamberger Regierung in einem Telegramm zu militärischen Aktionen: Er „halte für notwendig, dass Wiederherstellung früheren Zustandes in Bayern baldigst erfolgt, zumal da nach mir zugegangenen neueren Nachrichten aus München man dort anfängt, sich an Räteregierung zu gewöhnen. Wenn von Ihnen in Aussicht genommene wirtschaftliche Maßnahmen nicht in kürzester Zeit zum Ziele führen, erscheint militärisches Vorgehen einzig mögliche Lösung.“ Eine übrigens höchst aufschlussreiche Quelle für die wirklichen Motive der gegenrevolutionären Kräfte: Nicht die Unzufriedenheit, sondern gerade wachsende Zustimmung der Münchner zur Räterepublik ist der Grund, warum sie vom „bolschewistischen Terror“ „befreit“ werden sollen. Obwohl die Kommunisten nicht mehr in der Regierung waren, blieben sie an der Seite der konsequenten Verteidiger der Räterepublik.


 

Münchener Chronologie

1918

  • 7. November Friedenskundgebung auf der Theresienwiese. Marsch durch das Münchner Kasernenviertel, Wahl eines Arbeiter- und Soldatenrates, 1. Vorsitzender: Kurt Eisner, Ausrufung des Freistaats Bayern, Flucht des Königs
  • 8. November Erste Sitzung des Provisorischen Nationalrates, Bildung einer Revolutionsregierung aus MSPD, USPD und einem parteilosen Fachminister, Eisner wird Ministerpräsident
  • 5. Dezember Beschluss zu Landtagswahlen am 12. Januar 1919
  • 31.12./1.1. Aus dem Spartakusbund gründet sich die KPD

1919

  • 4. – 7. Januar Reichswehr und Freikorps schlagen den Aufstand in Berlin nieder
  • 7. Januar Arbeitslosendemonstration in München, Auseinandersetzungen mit der republikanischen Schutztruppe
  • 10. Januar Verhaftung von Mitgliedern des Revolutionären Arbeiterrates, eine Demonstration erreicht ihre Freilassung
  • 12. Januar Landtagswahlen: Bayer. Volkspartei 35 % (66 Sitze), MSPD 33 % (61), Deutsche Demokratische Partei 14 % (25), Bauern-Bund 5,8 % (9), USPD 2,5 % (3). Ergebnis in München: MSPD 44,6 %, BVP 24,2 %, DDP 23,1 %, USPD 4,9 %
  • 10. Februar Reichsgesetz über die vorläufige Reichswehr. Noske gibt Oberst Epp den Auftrag zur Bildung eines bayerischen Freikorps
  • 21. Februar Ermordung Eisners durch Graf Arco-Valley, Attentat auf Auer, Flucht des Landtages, Bildung eines Zentralrates, Vorsitzender Erst Niekisch
  • 23. Februar Öffentliche Versammlung der Münchner Räte, Antrag auf sofortige Ausrufung einer Räterepublik wird angenommen
  • 26. Februar Trauerfeierlichkeiten für Kurt Eisner, über 100000 TeilnehmerInnen geben dem ersten demokratischen Ministerpräsidenten Bayerns letztes Geleit zum Ostfriedhof
  • 5. März Eugen Leviné kommt im Auftrag der KPD-Zentrale nach München
  • 3. April Eine Versammlung, zu der die Augsburger MSPD eingeladen hatte, fordert vom Zentralrat die Ausrufung der Räterepublik in Bayern
  • 4./5. April MSPD, USPD, Bauern-Bund, Mitglieder des Zentralrates und Anarchisten beraten im Kriegsministerium über die Ausrufung der Räterepublik, Stellungnahme Eugen Levinés
  • 7. April Audrufung der „Bairischen Räterepublik“. Ernennung von Volksbeauftragten, Zensur der bürgerlichen Presse. Die Regierung Hoffmann besteht auf ihren Rechten und verlegt ihren Sitz über Nürnberg nach Bamberg. Die USPD-Minister scheiden aus der Regierung Hoffmann aus
  • 13. April (Palmsonntag) Ein Putschversuch der Republikanischen Schutztruppe scheitert, Bildung der Zweiten Räterepublik, Wahl eines Vollzugsrates, Vorsitzender: Leviné. Aufruf zum Generalstreik
  • 14. April Auflösung der Polizei, Entwaffnung des Bürgertums, Aufstellung einer Roten Armee, Erscheinungsverbot für alle Zeitungen, Nachrichtensperre, es erscheinen die „Mitteilungen des Vollzugsrates der Betriebs- und Soldatenräte“, die Regierung Hoffmann ruft zur Bildung einer Volkswehr auf und ersucht um militärische Reichshilfe
  • 16. April Die Rote Armee hat Erfolge bei Dachau über die Truppen der Regierung, Egelhofer übernimmt das Oberkommando der Roten Armee
  • 27. April Rücktritt des Aktionsausschusses unter Leviné. Toller und Klingelhöfer versuchen vergeblich mit der Regierung Hoffmann zu verhandeln
  • 1. Mai Einschließung Münchens durch Weiße Truppen
  • 2. Mai Die Stadt wird von Reichswehr und Freikorps besetzt. Straßenkämpfe, Beginn des Weißen Terrors – Massenverhaftungen und Erschießungen. Landauer wird in Stadelheim ermordet, Egelhofer am 3. Mai erschossen
  • 8. Mai Danksagung der Regierung Hoffmann an General von Oven für die „umsichtige“ Durchführung der militärischen Aktionen
  • 13. Mai Verhaftung Levinés
  • 17. Mai Standgerichtsprozess gegen Eugen Leviné
  • 31. Mai In die Regierung Hoffmann treten bürgerliche Minister ein
  • 5. Juni Leviné wird erschossen
  • 17. August Rückkehr der Regierung Hoffmann und des Landtages nach München
  • 12. Sept. Hitler nimmt als Beobachter der Reichswehr an Versammlungen der DAP teil
  • 1. Oktober Der Kriegszustand wird aufgehoben

 

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"Die Arbeiter wollen die Rätemacht", UZ vom 5. April 2019



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