Der Beginn der modernen Forschung zur Entstehung irdischen Lebens

Von Beginn an evolutionär

Die Frage nach der Herkunft des Lebens, nach der Entstehung der ersten Lebewesen auf der Erde gehört zu den größten und wichtigsten Problemen der Naturwissenschaft. Jeder Mensch, auf welchem Bildungsniveau er auch stehen möge, stellt sich bewusst oder unbewusst diese Frage und beantwortet sie besser oder schlechter, weil ohne eine solche Antwort keine, nicht einmal die primitivste Weltanschauung gebildet werden kann.“

Mit diesen Worten beginnt das erstmals 1924 erschienene Buch „Die Entstehung des Lebens auf der Erde“ des sowjetischen Biochemikers Alexander Iwanowitsch Oparin. Trotz der epochemachenden Fortschritte der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert – wie etwa in Form der Darwinschen Evolutionslehre – war in dieser Frage Anfang des 20. Jahrhunderts noch keine wissenschaftliche Klärung abzusehen.

Widerlegung der Urzeugung

Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein waren viele Forscher und Philosophen überzeugt, dass das Leben infolge einer Urzeugung entstanden sei. Die Theorie der Urzeugung, die schon Aristoteles vertrat, geht davon aus, dass Lebewesen nicht nur durch Fortpflanzung mit ihresgleichen erzeugt werden können. Sie können auch spontan aus organischen oder anorganischen, aus leblosen Stoffen entstehen. Seit großen Fortschritten in der Qualität von Vergrößerungsgläsern Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte man in „allerlei pflanzlichen Tinkturen und Absuden, in faulendem Fleisch, in verdorbener Bouillon, in saurer Milch“ Mikroorganismen in rauen Mengen. Diese, so die Anhänger der Urzeugung, seien in den leblosen Stoffen selbst entstanden. Zwar gab es auch damals schon die Auffassung, die Stoffe seien über Keime in der Luft kontaminiert worden, sie konnte sich aber gegen die Theorie der Urzeugung nicht durchsetzen.

Einen – wenngleich nicht von jedem anerkannten – Schlussstrich unter diese Debatte zog 1862 der französische Wissenschaftler Louis Pasteur. In Experimenten wies er nach, dass in faulenden Stoffen keine lebendigen Organismen entstehen. Er zeigte zweifelsfrei auf, dass die faulenden Stoffe mit Keimen und Mikroorganismen aus der Luft in Kontakt gekommen waren. Nur daraus, so Pasteur, sei das Aufkommen etwa von Bakterien in den Stoffen zu erklären. Die Urzeugung war widerlegt. Friedrich Engels bemerkte einige Jahre später mit Blick auf die Experimente, die von Anhängern der Urzeugung unternommen wurden, es sei „Torheit (…) zu glauben, vermittelst etwas stinkenden Wassers die Natur zwingen zu können, das in 24 Stunden zu tun, was sie tausende von Jahren gekostet hat“.

Reaktionen chemischer Stoffe

Erst 1924 kam Bewegung in die Frage der Entstehung des Lebens. Oparin stellte die Hypothese auf, dass es vor etwa vier Milliarden Jahren infolge von Reaktionen chemischer Stoffe nach und nach zur Entstehung der ersten Zellen – der Grundeinheiten allen Lebens – gekommen sei. Daraus habe sich dann alles weitere Leben – Bakterien, Pflanzen, Pilze, Tiere und Menschen – entwickelt. Er war der erste Naturwissenschaftler, der eine wissenschaftlich begründete Hypothese zu diesem evolutionären Prozess aufstellte. Die Bedeutung des sowjetischen Biochemikers wird noch heute von Wissenschaftlern unterstrichen. So schreibt etwa der deutsche Geologe Ulrich Schreiber, dass Oparin die „eigentliche Grundlage zur Erforschung der präbiotischen Evolution legte“.

Das Wissen über die junge Erde ist heute natürlich viel weiter fortgeschritten als noch zu Oparins Zeiten. Dieser nahm deshalb, so beschreibt es Schreiber, eine andere Zusammensetzung der Atmosphäre für diese Zeit an, als das heute getan wird. Allein schon deswegen spielt Oparins Modell im engeren Sinn heute keine Rolle mehr.

Unumstritten ist jedoch der diesem Modell zugrundeliegende evolutionäre Prozess der Entwicklung lebendiger Organismen aus chemischen Verbindungen, die miteinander reagieren und dabei immer komplexer werden.

Ursuppe

Alles Leben auf der Erde hat sich aus einzelnen Zellen entwickelt. Die Frage ist, wie aus den vorhandenen chemischen Stoffen der jungen Erde die ersten Zellen entstehen konnten. Zellen bestehen aus bestimmten, für ihre Funktion unabdingbaren Komponenten. Wichtige dieser Komponenten bestehen beispielsweise aus Aminosäuren, Zuckern und organischen Basen. Solche chemischen Verbindungen, die in lebenden Organismen vorkommen, werden auch als organische Moleküle bezeichnet. Eine grundlegende Funktion in Zellen erfüllen die Nukleinsäuren. Bekannte Nukleinsäuren sind DNA und RNA. Sie sind Informationsträger. Wenn eine Zelle wächst und sich teilt, nutzt sie die in den Nukleinsäuren gespeicherte Information, um eine funktionsfähige Kopie von sich selbst herzustellen. Auf der jungen Erde waren vor der Entstehung lebender Organismen im Urmeer und in der Uratmosphäre viele chemische Stoffe vorhanden. Die genannten organischen Moleküle – Aminosäuren, Zucker, organische Basen – mussten erst gebildet werden. Zu den vorhandenen Ausgangsstoffen gehören Kohlenmonoxid, Kohlendioxid, Stickstoff und Wasser. Diese reagierten über einen langen Zeitraum mithilfe natürlicher Energiequellen miteinander und mit anderen Stoffen, um schließlich die organischen Moleküle zu bilden. Umstritten ist heute, auf welchem Weg das genau passierte. Auch wo diese natürliche „Chemiefabrik“ war, wird diskutiert. Das ist unter anderem deshalb wichtig, weil damit geklärt wäre, welche Energiequelle die chemischen Verbindungen zur Verfügung hatten, um miteinander zu reagieren. Waren es warme Tümpel, tektonische Spalten oder eher das Urmeer? Wurde die Energie durch Vulkanismus, heiße Tiefseequellen oder Blitzeinschläge bereitgestellt?

Materie in Bewegung

Wie Oparin hervorhob, ist die Frage des Lebensursprungs nicht allein für die Naturwissenschaften von Bedeutung. Dies war für sowjetische Forscher selbstverständlich, denn sie bauten ihre Forschung auf den Prinzipien des dialektischen Materialismus auf: „Die Materie bleibt niemals in der Ruhe, sondern sie bewegt und entwickelt sich beständig und in ihrer Entwicklung geht sie aus einer Form der Bewegung in immer neue, in immer kompliziertere und vollendetere Formen über. Auch das Leben erscheint als eine solche besondere, sehr komplizierte Form der Bewegung der Materie, die als neue Qualität auf einer bestimmten Stufe der allgemeinen Entwicklung der Materie entstanden ist.“

„Das heutige Leben“, so Oparin, „ist also nicht Resultat irgendeines zielstrebigen Prozesses, der durch einen Schöpfungsplan oder durch irgendeinen ‚glücklichen Zufall‘ bestimmt worden ist. Es ist vielmehr gesetzmäßig, als neue Bewegungsform der Materie im Prozess ihrer Entwicklung, entstanden.“

Denken können

Engels, der stets auf der Höhe der Naturwissenschaften seiner Zeit war, empfahl Forschern eine Verbindung mit der Philosophie. Denn auch sie müssen denken und haben „zum Denken Denkbestimmungen nötig“. Es frage sich nur, ob ihr Denken von einer „schlechten Modephilosophie“ bestimmt werde „oder von einer Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften beruht“.

Schon oft genug stellten Philosophen Hypothesen auf, die Naturforscher später wissenschaftlich fundierten. So vermutete Immanuel Kant beispielsweise bereits 1759, dass unser Sonnensystem durch rotierende Nebelmassen entstanden sei. Engels bezeichnete diese Hypothese Kants als „größten Fortschritt, den die Astronomie seit Kopernikus gemacht hatte“. Zum ersten Mal sei damit „an der Vorstellung gerüttelt“ worden, „als habe die Natur keine Geschichte in der Zeit“.

In dieser fortschrittlichen Tradition steht Oparin. Seine evolutionäre Lebensursprungslehre war ein weiterer Sieg der Naturwissenschaften und des dialektischen Materialismus über irrationale Vorstellungen von göttlichen Anstößen und mysteriösen Kräften, die der Materie Leben einhauchen.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Von Beginn an evolutionär", UZ vom 27. Juni 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Stern.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit