Dem Widerstandskämpfer Jakob Kindinger zum 120. Geburtstag

Marksteine für eine Kleinstadt

Wer kennt nicht „Nackt unter Wölfen“, die Geschichte des von KZ-Häftlingen vor dem sicheren Tod bewahrten kleinen Jungen? Auch von der spektakulären Rettung des jungen jüdischen Kommunisten Emil Carlebach in Buchenwald haben viele schon gehört. Wie oft haben nicht „rote Kapos“ in den Konzentrationslagern Leben gerettet – ob Karl Wagner in Dachau, Albert Kuntz in Mittelbau Dora oder Wilhelm Hammann in Buchenwald. Nicht immer wurde es ihnen gedankt.

40 Jahre nach der Befreiung sprach Emil Carlebach, inzwischen prominenter Autor und nach 1945 Mitherausgeber der „Frankfurter Rundschau“, auf einer Gedenkveranstaltung für die von der Gestapo am Bensheimer Kirchberg Ermordeten. Er bezeugte, dass er sein Leben nur dem einstigen Blockältesten, seinem Genossen Jakob Kindinger, zu verdanken habe. Und natürlich der Solidarität der internationalen illegalen Widerstandsorganisation, der sie beide angehörten.

2710 Jakob Kindinger 1945 01 - Marksteine für eine Kleinstadt - Antifaschismus, Jakob Kindinger - Theorie & Geschichte
Jakob Kindinger am 1. Mai 1945, dem Tag der Befreiung aus dem KZ Buchenwald. (Foto: unbekannt)

Wer war dieser Mutige? Der vor nunmehr 120 Jahren im Odenwälder Reichenbach geborene Jakob erlebte schon mit fünfzehn seinen ersten Streik. Bald schloss sich der gelernte Steinmetz der Gewerkschaft und der KPD an, organisierte nach 1933 den Widerstand, sammelte heimlich für die Rote Hilfe. Für die Faschisten war er ein „gemeingefährlicher Strolch, der strengstens von der Volksgemeinschaft isoliert werden musste“. Nach Jahren in Gefängnissen und Konzentrationslagern landete er in Buchenwald. In den „Buchenwald-Dokumenten“ beschrieb Jakob den Tag, als „46 Kameraden am Tor antreten sollten. Die SS wollte sie ermorden. Alle Kameraden des Lagers waren sich darüber einig, dass wir keinen unserer Kameraden der SS ausliefern würden. Ich habe mich sofort bereit erklärt, neun von diesen 46 Kameraden auf meinem Block zu verstecken.“ Diese neun hielten sich tatsächlich bis zur Befreiung versteckt. Mit dem „Stubendienst“ (dreizehn Russen, zwei Franzosen und ein Pole) war abgesprochen, dass jeder SS-Mann, der einen von den Versteckten holen wollte, dies mit dem Tod bezahlen würde.

Jakob und Emil, beide Mitglieder des illegalen internationalen Lagerkomitees, sind mittendrin bei der Selbstbefreiung der Häftlinge am 11. April 1945 – einer Heldentat, die sonst in keinem anderen Lager gelang. Die überlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen dankten Jakob Kindinger später ausdrücklich für seine aufopferungsvolle Hilfe.

In seiner Bergsträßer Heimat sollte es indes noch eine ganze Weile dauern bis zu einer öffentlichen Anerkennung, geschweige denn Danksagung.

Zunächst berief man ihn wie auch andere aufrechte Nazigegner in den Bürgerrat; für die KPD saß er bis 1952 im Stadtrat. Er war Betriebsrat und Gewerkschaftssekretär der IG Bau-Steine-Erden (heute IG BAU). Immerhin ehrte ihn der Bürgermeister „für seine Verdienste zum Wohle der Bürger“. Was hatte er davon? Zur gleichen Zeit traf ihn, den städtischen Angestellten, das Berufsverbot aufgrund des Adenauer-Erlasses. Ganz davon abgesehen musste er immer noch um seine Entschädigung als NS-Verfolgter kämpfen. Vom Stadtrat wechselte er dann in den Kreistag. Selbst nach dem KPD-Verbot schaffte er es mit einer eigens gegründeten „überparteilichen“ Liste für eine weitere Wahlperiode in den Bergsträßer Kreistag – bekannt wie ein bunter Hund und hochgeschätzt als einer, der sich einsetzt und sich nichts vormachen lässt.

Es war die DKP Bensheim mit ihrem Kreisvorsitzenden Horst Riegert, die in den 1970er Jahren den Anstoß zu einer aktiven Erinnerungskultur gab. Bald gründeten sich die „Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter gegen Faschismus“ (heute „Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger“). Die DGB-Vorsitzende Christa Krämer pochte darauf, Kindinger mit einer Straßenbenennung zu ehren. Oberstufenkurse der Geschwister-Scholl-Gesamtschule begaben sich mit ihren Lehrern in die Archive zur Recherche. Heraus kam die erste und bislang einzige umfassende Biografie über den Widerstandskämpfer. Sie kann hier heruntergeladen werden.

Zwei Jahre nach seinem Tod wurde die Jakob-Kindinger-Straße im Neubaugebiet Kappesgärten eingeweiht. Wiederum einige Zeit später, 2017, wurde ein markanter Findling aus dem Odenwald samt Inschrift aufgestellt, initiiert vom früheren DGB-Sekretär Gerd Helbling. Ein beispielhaftes Erinnerungswerk – zu einer Zeit, als vielerorts der Arbeiterwiderstand und erst recht der Widerstand der KPD totgeschwiegen wurde.

Diese vielfältigen Aktivitäten bedeuteten nicht zuletzt eine späte Genugtuung für Jakobs schwer gebeutelte Familie. Seine Ehefrau Maria und seine bald nach der Heirat 1930 geborene Tochter Else hatten sich nach 1933 eher schlecht als recht durchschlagen müssen. Bei seiner Heimkehr stürzte sich Jakob – trotz angeschlagener Gesundheit – gleich in die Arbeit, wollte zum erhofften Neuaufbau beitragen. Dabei machte sich der meinungsstarke, gradlinige Kommunist beileibe nicht nur Freunde, wurde angefeindet und provoziert. Die früheren Nazis und ihre Mitläufer witterten bereits wieder Morgenluft: Der Kalte Krieg begann. All das ließ auch seine Familie nicht unberührt.

Als er 1986 starb, führte die von Jakobs Partei organisierte Trauerfeier im Dalberger Hof Menschen verschiedenster politischer Couleur zusammen. Dem selbstlosen, unbeirrbaren Humanisten und Kämpfer „für eine Welt des Friedens und der Freiheit“ zollten sie höchsten Respekt. Der DKP-Vorsitzende Günter Löffler begrüßte im vollbesetzten Saal des Dalberger Hofs auch den Bürgermeister. Der inzwischen gestorbene CDU-Mann Georg Stolle fand sehr persönliche Dankesworte für den einstigen Straßenmeister der Stadt Bensheim.

Scheinbar aus heiterem Himmel entbrannte 30 Jahre später ein bizarrer Streit mit der Stadt. Der Grund? Der Magistrat schickte sich an, wegen des absehbaren Ablaufens der Liegezeit den Grabstein der Familie Kindinger abzuräumen. Sofort schlugen Antifaschistinnen und Antifaschisten Alarm, allen voran DGB-Vorsitzende Jutta Mussong-Löffler. Die DKP sprach von einem „völlig verkehrten Signal“ angesichts einer immer dreisteren Rechten (UZ vom 26. Mai 2017).

Nach drei Jahren Streit konnte eine Einigung erzielt werden: Mitten auf dem Friedhof nimmt jetzt der große Marmorstein der Kindinger-Familie einen Ehrenplatz ein, darüber an der Mauer eine feine, würdige Infotafel: Mithäftlinge habe er „vor dem Tod bewahrt unter Einsatz seines Lebens“. Zu ergänzen wäre: Ihm ging es um nicht weniger als die ganze Menschheit – sie wollte er bewahren, vor Faschismus, Kriegen und Zerstörung. Dafür kämpfte er, unser Genosse Jakob. Ein Vorbild für uns und kommende Generationen.

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"Marksteine für eine Kleinstadt", UZ vom 4. Juli 2025



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