Es ist ein schmales Buch, in dem Lukas Maisel die Geschichte eines unglaublich klingenden Vorgangs erzählt. Gerade mal 120 Seiten braucht er, um in „Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ von der Nichttat eines Mannes zu berichten. „Wenn Sie diese Geschichte lesen, wissen Sie schon, wie sie ausgehen wird“, wendet sich Maisel im ersten Kapitel an seine Leser. „Dass Sie leben, ist der Beweis, dass sie gut ausgegangen ist.“
Lukas Maisel widmet sich in seinem in klarer, unverschnörkelter Sprache gehaltenen Roman Stanislaw Petrow – oder, besser gesagt, einem Tag in dessen Leben. Dem Tag, als die Computer in der Sowjetunion Daten meldeten, die auf einen Angriff der USA mit Nuklearwaffen schließen ließen. Denn Petrow lebte in einem geheimen sowjetischen Militärstädtchen und arbeitete dort im Raketenabwehrzentrum. Am 26. September 1983 übernimmt er für einen kranken Kollegen die Nachtschicht. Dann geht der Alarm los.
Doch Petrow traut den Daten nicht, beziehungsweise den Schlussfolgerungen, die der Computer daraus zieht, und verzichtet darauf, eine Befehlskette in Gang zu setzen, die in einen Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion hätte führen können. Maisel widmet sich dabei vor allem dem Innenleben Petrows, den Gedanken, die seine Entscheidung begleitet haben mögen: „Ich will nicht, dachte Petrow, Auslöser des Dritten Weltkriegs sein. Das war der entscheidende Gedanke. Er wollte die Menschheit nicht auf dem Gewissen haben. Wenn der Krieg unausweichlich war, dann würde er alles in seiner Macht Stehende tun, um Schaden von seinem Land abzuwenden. Doch den Krieg beginnen wollte er nicht.“
Natürlich kommt solch ein Roman nicht ohne Kritik an der Sowjetunion aus. Und es darf bezweifelt werden, dass Petrow mehrmals an die Dummheit von Politikern dachte – und an die besondere Dummheit der sowjetischen, während er eine so weitreichende Entscheidung traf. „Woran dachte Stanislaw Petrow in diesem Augenblick der Entscheidung? Er dachte nicht an seine Frau oder seine Kinder, er dachte an Kamtschatka: an die schneebedeckten Vulkane und die Birkenwälder Kamtschatkas. Daran, dass es die Vulkane und Birkenwälder nicht mehr geben wird, wenn dieser Krieg beginnt, der keinen Sieger haben kann. Einstein hatte gesagt, er sei nicht sicher, mit welchen Waffen der Dritte Weltkrieg ausgefochten würde, aber im Vierten würden die Menschen mit Stöcken und Steinen kämpfen.“

Im nüchternen, geradezu dokumentarischen Stil des Schweizer Autors kommt vor allem das Grauen zutage, das Petrow abgewendet hat. Und dass die USA als einziger Staat bisher bereit waren, dieses Grauen tatsächlich einzusetzen. Und so erinnert sich Petrow bei seiner Entscheidungsfindung an einen Film, den er in der Militärakademie gesehen hat – und weiß, dass ein Mensch mit Gewissen die Entscheidung treffen muss. „Der Computer … konnte auch keine Menschen lieben, und er kannte die Angst nicht, ihn zu verlieren. Er wusste nicht, was der Tod war, und deswegen wusste er nicht, was es bedeutete, den Roten Knopf zu drücken. Der Computer kannte die eingebrannten Schatten von Hiroshima nicht, die Untoten auf der Suche nach Wasser.“
Schnell hat man sich durch die 120 Seiten gelesen, eine Stunde oder zwei, dann ist man am Ende und spürt, gemeinsam mit dem Protagonisten, Erleichterung. „Er zündete eine Papirossa an und rauchte sie mit geschlossenen Augen … Keine Zigarette schmeckte besser als die nach einem Weltuntergang, der nicht stattgefunden hatte. Es war die beste Zigarette seines Lebens.“
Das Buch sollte Mahnung sein. Drohgebärden können in die Katastrophe führen. Es sollte Mahnung sein an all diejenigen, die heute weiterhin US-Atombomben in Büchel haben wollen, die neue US-Raketen in unserem Land stationieren. Es muss noch nicht einmal zur tatsächlichen Eskalation führen. Ein Fehler, ein menschliches Versagen kann genügen. Die, die dieses Buch lesen müssten, werden es wahrscheinlich nicht tun. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, den neuen Ostlandritt vorzubereiten. Wider jede Vernunft.
Lukas Maisel
Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete
Rowohlt, 120 Seiten, 23 Euro