Hardliner erzwangen im Oktober 1956 Landung von FLN-Führern in Algier

Die erste Flugzeugentführung der Zivilluftfahrt

Ralf Klingsieck, Paris

Am 22. Oktober 1956 wurde eine Maschine der marokkanischen Fluggesellschaft Air Maroc auf dem Flug von Rabat nach Tunis durch ein französisches Jagdflugzeug abgefangen und zur Landung in Algier gezwungen. Das war die erste Flugzeugentführung in der Geschichte der zivilen Luftfahrt. Auf dem Flughafen von Algier warteten bereits Journalisten auf die fünf Männer unter den Passagieren, denen das Manöver gegolten hatte und die jetzt von Militärpolizisten aus der Maschine geholt und unter einem Blitzlichtgewitter in Handschellen abgeführt wurden.

Es handelte sich um ranghohe Mitglieder der Auslandsführung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN. Der bekannteste unter ihnen war Ahmed Ben Bella, der die Organisation 1954 mitgegründet hatte, zu ihren neun historischen Führern gehörte und später der erste Regierungschef und Präsident des unabhängigen Algerien werden sollte.

Die fünf wurden inhaftiert und kamen erst 1962 frei, als Algerien unabhängig wurde. Sie waren auf dem Weg zu einer Konferenz in Tunis, auf der der tunesische Präsident Habib Bourguiba, der marokkanische Sultan Mohamed V. und die Vertreter der FLN darüber beraten wollten, ob und wie Verhandlungen mit Frankreich über die Beendigung des Algerienkrieges – des Kampfes um die Unabhängigkeit der damaligen französischen Kolonie – aufgenommen werden sollten. Dabei ging es nicht zuletzt um ein Modell des friedlichen Zusammenlebens in dem neuen Staat, das auch für dort verbleibende Europäer akzeptabel gewesen wäre.

Dieser Verhandlungsansatz wurde durch die Entführung der FLN-Delegation torpediert. Das lag ganz im Interesse der Hardliner in der seinerzeit von den SFIO-Sozialisten gestellten französischen Regierung, in der Armee und im Geheimdienst, die die FLN und ihre Sympathisanten mit allen Mitteln schwächen und besiegen wollten.

1956 tobten die Kämpfe zwischen der französischen Armee und der FLN schon zwei Jahre, 200.000 Wehrpflichtige waren in Algerien im Einsatz und täglich gab es Bombenattentate mit Toten auf der einen und Verhaftungen, Folter und willkürlichen Hinrichtungen auf der anderen Seite. Bereits 1955 hatten die Pariser Regierung und der Auslandsgeheimdienst SDECE einen interministeriellen Aktionsplan aufgestellt, wie die Auslandsführung der FLN zu „neutralisieren“ sei.

Vor allem ging es dabei um Ben Bella, der in Kairo das Auslandsbüro der Befreiungsorganisation leitete und dank seiner engen Beziehungen zu Präsident Nasser die finanzielle und militärtechnische Unterstützung der FLN und ihrer Kämpfer durch Ägypten gesichert hat. Im Rahmen dieses Aktionsplans stationierte der SDECE in Ägypten, Libyen, Tunesien und Marokko, aber auch in Spanien und Italien Agenten, die als harmlose Auslandsfranzosen getarnt waren und die FLN-Vertreter beobachten sollten.

Einer dieser Agenten hat am 22. Oktober 1956 den geplanten Flug der FLN-Delegation von Rabat nach Tunis gemeldet und damit die Operation zur Entführung des Flugzeugs ausgelöst. In Algier übernahm der Kabinettschef des gewöhnlich dort residierenden, aber gerade abwesenden Algerienministers der französischen Regierung Robert Lacoste das Kommando und suchte nach einem Minister, der grünes Licht für eine Flugzeugentführung geben sollte.

Während die Maschine vom Typ DC-3 mit der FLN-Delegation Kurs auf die Balearen nahm, um bei einer Zwischenlandung in Palma de Mallorca aufgetankt zu werden, glühten zwischen Algier und Paris die Telefone. Algerienminister Lacoste war nicht erreichbar, da er sich auf Wahlkampfreise auf dem Kontinent befand.

Schließlich erreichten die Drahtzieher in Algier per Telefon den Staatssekretär im Pariser Kriegsministerium, Max Lejeune, der beim Thema Algerien zu den Hardlinern gehörte und der das erhoffte grüne Licht für die Operation gab. Die konnte dann gerade noch rechtzeitig erfolgen, bevor die Maschine mit den FLN-Politikern an Bord den Luftraum Tunesiens erreichte.

Als Präsident René Coty erfuhr, was in Algier vorgefallen war, rief er mitten in der Nacht alle erreichbaren Mitglieder der Regierung zu einer Krisensitzung im Élysée zusammen. Doch die Runde konnte nur feststellen, dass sich das, was da geschehen war, nicht mehr rückgängig machen ließ. Der Stunden später ins Bild gesetzte Regierungschef Guy Mollet war wütend über die Art und Weise, wie hinter seinem Rücken vollendete Tatsachen geschaffen worden waren, vermied es aber tunlichst, sich von der Entführung zu distanzieren, sondern übernahm dafür – ebenso wie sein Algerienminister Robert Lacoste – im Nachhinein die Verantwortung. Damit trugen sie dem starken Einfluss der in Algerien lebenden Franzosen Rechnung, die viel zu verlieren hatten und sich daher vehement gegen ein Ende des Kolonialregimes stemmten.

Dass sie dabei auch von breiten Kreisen der französischen Öffentlichkeit sowie vielen Medien und Politikern unterstützt wurden, zeigte sich beispielsweise in der Nationalversammlung, wo die Nachricht von der Entführung der FLN-Politiker mit viel Beifall und Rufen wie „Endlich wird entschlossen gehandelt“ aufgenommen wurde.

In unterschiedlichem Maße verurteilt wurde die Entführungsoperation von den linken Parteien und Organisationen in Frankreich, aber auch von einigen bürgerlichen Politikern und Persönlichkeiten. So sind beispielsweise Alain Savary, der Minister für die Beziehungen zu Marokko und Tunesien, sowie Pierre de Leusse, der französische Botschafter in Tunis, aus Protest von ihren Ämtern zurückgetreten. In den arabischen Ländern, wo die Öffentlichkeit die Kämpfe der FLN mit viel Sympathie und Hoffnung verfolgte, löste die Entführungsoperation einen Sturm der Empörung aus, wobei oft Büros und Läden von Franzosen angegriffen, zerstört und geplündert wurden und Menschen den Tod fanden. Besonders opferreich war das in Marokko, wo allein in der Kleinstadt Meknès mehr als 40 Franzosen ums Leben kamen.

Die Flugzeugentführung war auch Thema im UN-Sicherheitsrat, wurde aber schon Tage später dort wie in den internationalen Medien durch die Suezkanalkrise verdrängt.

Da die fünf Entführungsopfer nur eine politische Rolle im Ausland gespielt hatten und keine beim bewaffneten Kampf in Algerien selbst, hatte ihre Entführung keinen direkten Einfluss auf die Fortsetzung des Befreiungskrieges. Allerdings wurde damit eine Verhandlungslösung verhindert, die den Krieg vielleicht um Jahre verkürzt hätte.

1958 kam in Paris General de Gaulle an die politische Macht, der davon überzeugt war, dass Algerien als Kolonie nicht zu halten sein würde. Gegen den Widerstand im eigenen Land, der bis zu einem Staatsstreichversuch von Generälen im Mai 1958 ging, betrieb er die Beendigung des Algerienkrieges und die Aufnahme von Verhandlungen. Die endeten 1962 mit dem Vertrag von Evian über die Entlassung der Kolonie in die Unabhängigkeit – damit endete auch die Einkerkerung der fünf 1956 entführten FLN-Führer.

Ahmed Ben Bella wurde der erste Regierungschef des unabhängigen Algerien und ab 1963 in Personalunion auch der erste Staatspräsident. Er wurde 1965 durch einen Staatsstreich von Vizepremier Oberst Houari Boumedienne gestürzt und verbrachte den Rest seines Lebens völlig zurückgezogen und ohne Einfluss auf die politische Entwicklung im eigenen Land. Viele Jahre später wurde er allerdings von der Afrikanischen Union in ihren „Weisenrat“ berufen, den er ab 2007 leitete. Er ist 2012 im Alter von 95 Jahren in Algier gestorben.

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"Die erste Flugzeugentführung der Zivilluftfahrt", UZ vom 4. Juni 2021



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