Kamminke liegt in Sichtweite der Grenze zu Polen. Unweit des winzigen Dorfs erhebt sich der Golm. Fast siebzig Meter hoch und damit der höchste Hügel auf der Insel Usedom. Mitten im – heutigen – Naturschutzgebiet wurden einst mehrere Tausend Menschen bestattet: Am 12. März 1945 griffen fast siebenhundert amerikanische Flieger Swinemünde an. Die Hafenstadt war voll mit Flüchtlingen und Soldaten, es heißt, fast hunderttausend Menschen hielten sich dort auf, als die Bomben fielen. Mehr als vier Mal so viel wie die Stadt Einwohner zählte. Mit Pferdegespannen und Lastkraftwagen fuhr man im März vor achtzig Jahren die Toten hinaus, die man in den Ruinen geborgen hatte, und legte sie in Massengräber, ohne ihre Namen zu wissen. Bis heute sind keine dreitausend Personen identifiziert.
Wenige Monate später tagten in Potsdam die Siegermächte und legten die deutschen Nachkriegsgrenzen fest. Stalin entschied, dass Swinemünde außerhalb der sowjetisch besetzten Zone liegen sollte. Pieck und Ulbricht sprachen in Moskau vor. Für die kommunistischen Patrioten sollte die ganze Insel Usedom und damit Swinemünde deutsch bleiben, Stettin desgleichen, das ebenfalls westlich der Oder – der künftigen Grenze – lag. Die KPD hatte dort schon Strukturen aufgebaut und mit der Arbeit begonnen.
Was aus Deutschland werden würde, war 1945 nicht absehbar, wohl aber Polens Zukunft als verbündeter Nachbar der Sowjetunion. Aus militärstrategischen Erwägungen sicherte sich Moskau „seinen“ westlichsten Ostseehafen in Swinemünde, das fortan Swinoujście hieß. Die Bitte aus Berlin stieß darum auf taube Ohren und blieb eine offene Wunde bis zum Ende der 1980er Jahre. Erst dann regelten die DDR und Polen die Grenzfrage in der Pommerschen Bucht vertraglich.
Das alles muss man wissen, um zu verstehen, weshalb sich die DDR mit dem Erbe auf dem Golm anfänglich schwertat. Die Führung in Berlin agierte vorsichtig, unternahm nichts, was einen Anflug von Nationalismus und Revanchismus hätte haben können.
Die Evangelische Kirche sah die ungepflegte Gräberanlage auf dem Golm nicht als Politikum, sondern als Auftrag und bemühte sich seit 1950 um eine würdige und angemessene Gestaltung. Auf dem höchsten Punkt der Anlage wurde zu Beginn der siebziger Jahre ein zweigeteilter Rundbau errichtet, ein „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“. Darinnen war in Bronzelettern die Zeile aus der DDR-Nationalhymne zu lesen: „Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“.
Auf dem steilen Weg hinauf zum Mahnmal muss man an einer Plastik vorbei. Die Skulptur „Die Frierende“ steht dort seit 1984.
Es gibt verschiedene Informationstafeln, am Eingang der Grabanlage findet sich ein Pavillon, in dem das Schicksal namentlich bekannter deutscher Opfer erzählt ist, zum Luftangriff wird ebenfalls etwas gesagt. Auch dass seit 1992 eine Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm e. V. sich hier engagiert und im Jahr 2000 die Trägerschaft auf den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. übergegangen ist. Nichts gesagt und geschrieben jedoch wird über den verbrecherischen Krieg, wer ihn lostrat und aus welchem Grunde, wer daran verdiente und wer ihn bezahlte. Und weshalb hier, so dicht an der Grenze zu Polen, die offizielle DDR lange lavierte, diplomatisch übervorsichtig selbst beim Umgang mit Opfern des Krieges handelte.
Stattdessen erfahren die jährlich dreißig- bis vierzigtausend Besucher, dass im Frühjahr 1954 ein dreizehn Meter hohes Holzkreuz abgesägt worden sei – von „unbekannten Tätern“, und man setzt diese in Anführungszeichen, weil es sich dabei um eine „offizielle Verlautbarung“ gehandelt habe. Die Betonung soll insinuieren, die Täter seien der DDR-Obrigkeit durchaus bekannt gewesen, vielleicht handelten sie sogar in deren Auftrag. „Die Frierende“, die der Bansiner Bildhauer Rudolf Leptien 1952/53 geschaffen habe, „durfte nicht aufgestellt werden, weil die künstlerische Aussage nicht der Linie der Partei entsprach“. Komisch: Als die Figur 1984 aufgestellt wurde, war noch immer die gleiche Partei am Ruder.
Damals bemerkte ich auch das Fehlen der Nase an der Skulptur, was nirgendwo erklärt wurde. Ich schrieb den Verlust dem Wirken eines Vandalen zu. Heute jedoch erfährt der Besucher zum „Friedensdenkmal“, entstanden „im Auftrag der sozialistischen Kulturbehörde“ – wer oder was soll das gewesen sein? –, dass „vermutlich“ der Künstler „vor seiner Flucht sein eigenes Werk unbrauchbar gemacht habe“, indem er der Frierenden die Nase abschlug.
Nicht minder ideologisch durchtränkt die Erklärung zur Rotunde hinter der Skulptur, die der Rostocker Künstler Wolfgang Eckhardt tatsächlich als „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ schuf. Die heutige Apostrophierung als „sozialistisches Mahnmal“ erfolgt nicht ohne Hintersinn. Auf der runden Bodenplatte in der Mitte des Runds steht:
„Dreiundzwanzigtausend Tote des Zweiten Weltkrieges mahnen“. Dazu heißt es jedoch: „Die Zahl 23.000 ist eine politisch motivierte Konstruktion aus den 1960er Jahren und bezog sich auf alle Kriegstoten im Bereich der Inseln Usedom und Wollin. Bis heute wird sie irrtümlich oft missverstanden als Zahl der auf dem Golm ruhenden Opfer des Bombenangriffs auf Swinemünde.“ Was für ein denunziatorischer Blödsinn! Macht es vielleicht einen Unterschied, ob alle Kriegstoten der beiden Inseln oder nur die hier Bestatteten gemeint sind? Tot ist tot, Kriegsopfer bleibt Kriegsopfer und jedes ist eines zu viel!
Nicht minder einfältig die Erklärung zur Zeile an der Innenwand der Rotunde, die – weil sie aus der DDR-Nationalhymne stammt – als „staatstragende Inschrift“ verhöhnt wird. „Dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint“ habe das Mahnmal zu einem „sinnstiftenden Ort für sozialistische Jugend- und Parteiorganisationen“ gemacht. Die „Sinnstiftung“ erfolgte allerdings nicht nur bei diesen, was sich durchaus an der mehrheitlichen Ablehnung hierzulande von Kriegsertüchtigung und Kriegen ablesen lässt.
Die Inschrift aus Bronze wurde 2009 gestohlen. Die dann durch bronzefarbenen Kunststoff ersetzte Inschrift verschwand im darauf folgenden Jahr – obgleich doch zweisprachig angeschlagen stand, dass der Ersatz der Bronze für Metalldiebe wertlos sei. Es steht zu bezweifeln, dass die vermeintlichen Metalldiebe nicht lesen konnten. Also fragt man sich: Wer dann hat 2010 die Inschrift entwendet? Und warum?
Immerhin: Nun steht der – vom heutigen Zeitgeist geschmähte – Friedens-Appell schwarz auf weißer Wand. Sein Schicksal erinnert irgendwie an die von Brecht berichtete „Unbesiegbare Inschrift“: „Zur Zeit des Weltkriegs / In einer Zelle des italienischen Gefängnisses San Carlo / Voll von verhafteten Soldaten, Betrunkenen und Dieben / Kratzte ein sozialistischer Soldat mit Kopierstift in die Wand: / Hoch Lenin!“ Erst wurde der Schriftzug mit Farbe übermalt, dann polkten ihn Maurer aus der Wand und damit in diese, und als das nichts half, sagte der Wächter: „Jetzt entfernt die Mauer.“
Das wird dem Mahnmal auf dem Golm hoffentlich erspart bleiben.


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