Volker Brauns philosophisches Verständnis von Veränderungen

Die Verhältnisse zerbrechen

Von Rüdiger Bernhardt

Volker Braun: Verlagerung des geheimen Punkts. Schriften und Reden. Berlin: Suhrkamp Verlag 2019, 320 Seiten, 28 Euro

Die Vorträge und Aufsätze Volker Brauns im Band „Die Verlagerung des geheimen Punktes“ – sie wurden zu seinem 80. Geburtstag veröffentlicht, entstanden sind sie von 1977 bis 2018, fünf sind Erstveröffentlichungen – weisen ihn als einen Dichter des Realen und seiner Widersprüche aus: Sein 6. Geburtstag am 8. Mai 1945 „war der Tag der Befreiung und Besetzung“ und nicht der „Niederlage“; das ist eine beispielhafte Formulierung. Vor der chronologisch angeordneten Abfolge stehen ein Motto und eine Selbstbestimmung von 1977. Sie führen zum „geheimen Punkt“. Zitiert wird er nach Goethes Rede „Zum Schäkespears Tag“, verstanden wird er als das „Eigentümliche unsres Ichs“ und seine Beziehung zum „notwendigen Gang des Ganzen“, die Dualität zwischen Individuum/Subjekt und Gesellschaft, der Widerspruch von individueller Freiheit und gesellschaftlichen Zwängen, „das Eigenste … nur gegen das Gesellschaftliche formulieren zu können“.

Von Shakespeare über Goethe und Büchner, flankiert durch Marx und Engels, führt Braun den Widerspruch in die Gegenwart: Er sei grundsätzlich, bisher noch nicht bestimmt von Philosophen. Die „Verlagerung“ sieht Braun darin, dass „das Eigentümliche unsres Wirs, die ungewisse Solidarität unsres Wollens, den nicht notwendigen Gang des Ganzen ändert“. Das ist die Beziehung des gestalterischen Subjektiven mit dem geschichtlichen Objektiven. Braun versuchte, die Grenzen von Goethe, Kant und Büchner zu erkennen; er fand sie, Marx, Engels und Lenin heranziehend, in den ungelösten Verhältnissen, die eine doppelte Lösung verlangen: „der Mensch und die Gesellschaft“. Dieses Verhältnis ist der „geheime Punkt“. Gleiche gesellschaftliche Verhältnisse werden Unterschiede der Individuen erkennen lassen; zu oft ist der Einzelne in den Ansprüchen des Gesellschaftlichen verschwunden.

Brauns Kronzeuge ist Georg Büchner, einer von denen, „die die Worte genau und hart fügten“. Damit wird auf die Bedeutung von Sprache für die Dichtung wie für die Vernunft hingewiesen. Büchner gehört zu den Säulen des Braun’schen Denkens und ist es geblieben. Anna Seghers wünschte Volker Braun im Zusammenhang mit dessen „Unvollendeter Geschichte“ „nicht das schwere Schicksal Büchners“. Brauns Aufsatz „Büchners Briefe“ war ein politisches Manifest, mit dem sich Braun zu Brecht und Heiner Müller stellte. Er leitete von Büchner her, dass es immer noch der Gegengewalt bedürfe, um Gewalt, auf der die Existenz einer Gesellschaft beruhe, zu beseitigen. Als er 2000 den Georg-Büchner-Preis erhielt, gab er seiner Rede schon in der Überschrift den Gedanken mit: „Die Verhältnisse zerbrechen“ und fand in Büchner ein Beispiel: „Niemand hat die Desillusionierung härter ausgesprochen“, die auch in der Gegenwart wieder aktuell war.

Auch wenn sich um 1989 vieles geändert hatte, auch wenn Braun Enttäuschungen erleben und Hoffnungen begraben musste, an seinem grundsätzlichen Denken änderte sich nichts; die Desillusionierung, die Braun erlebte, hatte Büchner „härter“ als kein anderer vor ihm ausgesprochen. Brauns „Wir“ sieht sich als „Kinder wieder eines Zeitenbruchs“, womit nicht 1989 gemeint ist, sondern die Gesamtheit des revolutionären Vorgangs vom Zweiten Weltkrieg bis heute, vergleichbar Büchners „Gewaltzustand“ der Französischen Revolution von 1789 bis 1835. Da hat sich nichts geändert: Die deutsche Einheit von 1990 – „kaufmännisch schlecht erledigt“, durch sie lernte Braun „die Armseligkeit des menschlichen Geistes wieder von einer neuen Seite kennen“. Geblieben ist „das sinnliche Argument der Widersprüche, das uns rigoros in die Wirklichkeit führt“ und eine alles „Gedachte übersteigende“ Alternative zum Ziel habe. Da ist mit heutigen Macht-Vorstellungen nichts geholfen.

1997 erklärte Braun vor der Akademie für Sprache und Dichtung: „Mich zog der Widerspruch groß.“ Gegensätzliche Positionen waren und sind beide richtig; die soziale Revolution bleibt unabdingbar, auch wenn die politischen Umstände ihr nur bedingt entsprachen. Das Verständnis dafür glaubt er bei wenigen zu finden, aber die Widersprüche und die Machtdemonstrationen werden stärker als früher. Die Ursachen sieht er wie Marx beim „vagabundierenden Kapital“, dem man weiterhin als „Reisender in Revolutionen“ begegnen muss, als den er sich fühlt, gemeinsam mit einem „Wir“, das anders geworden ist: Früher sprach man „von der Sächsischen Dichterschule“ und verstand darunter „Mickel, Kirsch, Tragelehn und einige mehr“. Heute verbergen sich weniger Menschen dahinter. Unverändert geblieben ist Brauns Grundsatz: „Zuwider ist mir Macht.“ Zur Einheit Deutschlands 1990 erklärte er, dass „wir“ „unsere Differenzen zu hüten haben … gegen die besoffene Macht, die die Widersprüche plattwalzt“. Brauns Ablehnung der Macht ist genau bestimmt, ihr Gegensatz sind die wirkenden Widersprüche und ihre Umsetzung in Gewalt und Dichtung. Das Ergebnis ist die „eigene Bewegung“, „Volkseigentum plus Demokratie, das ist noch nicht probiert, noch nirgends in der Welt“.

Auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989 fand Braun die „herrlichste Einbildung“; es ging „um fast alles“. Stattdessen hatte „die Macht“ – auch der „entschlossene Irrsinn der Macht“ – „die Volksenteignung“ angeordnet und willfährige Volkskammerabgeordnete wurden dienstbare Geister und erließen „das Ermächtigungsgesetz für das Kapital“. Brauns Hoffnungen sind keineswegs verschwunden. Nur sind sie anders geworden, getragen von der „entschlossenen Vernunft“. Für die Verwirklichung des kommunistischen Programms ist die Beziehung zwischen Mensch und Gesellschaft zu lösen, „der geheime Punkt“, weil „die freie Entwicklung jedes Einzelnen die Bedingung ist für die freie Entwicklung aller“, zitiert er aus dem Kommunisten Manifest.

Der Titel seines Textes „Unvollendete Geschichte“ war, ist und bleibt das Programm seiner Arbeit: Wer das Unvollendete nicht als Hoffnung begreift, wird ihn nicht nur missverstehen, sondern beleidigend verdächtigen: Seine Skepsis gegenüber der Macht mache ihn der Bourgeoisie sympathisch, hieß es kürzlich. Er lehnt Macht ab und meint die herrschende, Gewalt nicht und meint die „Gegengewalt“. Apparate – auch Parteien – sind für ihn keine Lösung. Solange der Widerspruch erzieht, sind Bewegungen nicht zu Ende. Doch Widerspruch heißt auch, nicht eine billige Wahl zwischen richtig und falsch – wie oft gemeint wird – sondern „Satz und Gegensatz gleichermaßen gültig“, so im Eröffnungsbeitrag des Bandes und gültig für alle Beiträge. In der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft sieht Braun ein entscheidendes Problem. Geblieben ist seit Büchner die „ungeheuerliche Wahrheit“, dass man „die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volke suchen“ muss. Aber die Verhältnisse sind weiter, weltweiter geworden, „die Demokratie geht auf Bombenteppichen“.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Die Verhältnisse zerbrechen", UZ vom 19. Juli 2019



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