Anbiederungen an die Jugend und Vereinnahmungsversuche fallen dem Nachwuchs schnell auf – um so mehr, wenn man dabei so dilettantisch vorgeht wie Boris Pistorius (SPD). Dessen Versuch, die weit mehrheitlich gegen die Wehrpflicht eingestellte Jugend auf die Seite des Imperialismus zu ziehen, hat Tizi von der SDAJ Stuttgart in einer vielbeachteten Rede zerpflückt. Wir dokumentieren ihren Beitrag, gehalten auf dem Schulstreik in Stuttgart am 5. Dezember, in voller Länge:
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat gestern ein Video zu den Schulstreiks gemacht. Er sagt darin, dass allein die Tatsache, dass wir heute demonstrieren können, zeigt, was für ein großartiges Land Deutschland sei.
Dabei haben wir vor den Streiks erlebt, dass der deutsche Staat die Streiks an vielen Orten bekämpft. Bildungsministerien und Schulleitungen haben den Schülerinnen und Schüler, die am Streik teilnehmen wollten oder dazu aufriefen, gedroht. Die Stadt Rostock hat die Versammlung eigenmächtig verschoben und unser Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Deshalb ist es sehr mutig, dass ihr heute hier seid und gemeinsam sagt: Was sind schon ein paar unentschuldigte Fehlstunden dagegen, 190 Tage in der Kaserne Töten zu lernen? Deshalb ist es unfassbar mutig, dass wir hier trotzdem alle gemeinsam sagen: Nein zur Wehrpflicht!
Verteidigungsminister Pistorius hat in seinem Video zu den Schulstreiks gestern gesagt: „Unsere gesamte Art zu leben ist ein Geschenk.“ Dann schauen wir uns doch mal die Realität an. Ich möchte das Beispiel von der IGS Süd erzählen – ich weiß, dass heute viele Schülerinnen und Schüler von der IGS Süd hier sind. An der IGS Süd in Frankfurt am Main standen über lange Zeit hinweg 500 Metallstützen, weil das Gebäude einsturzgefährdet war. Jede Woche war die Frage, in welchen Räumen der Unterricht überhaupt noch stattfinden darf. In den Sommerferien wurde dann entschieden: Niemand darf das Gebäude mehr betreten. Die Hälfte der Schule ist kurzfristig ans andere Ende der Stadt umgezogen. Viele Schülerinnen und Schüler müssen jeden Tag einen zusätzlichen Schulweg von einer Stunde pro Strecke in Kauf nehmen. Und das Ganze ist nur die Übergangslösung der Übergangslösung: In drei Jahren sollen die Schüler in Container umziehen, wieder am anderen Ende der Stadt. Das schlimme ist: Das ist eigentlich kaum erwähnenswert. Denn an hunderten, tausenden Schulen in Deutschland sieht es genauso aus. Es fehlen 70 Milliarden Euro, um die Schulen zu sanieren. 70 Milliarden Euro, das klingt viel. Aber das ist gar nichts im Vergleich zu dem, was gerade in Aufrüstung gesteckt wird. Das ist ein Bruchteil von dem, was in die Aufrüstung gesteckt wird.
Boris Pistorius sagt, „unsere gesamte Art zu Leben sei ein Geschenk“. Er sagt das in einem Land, in dem jedes vierte Kind in Armut aufwächst, in dem die Umwelt zerstört wird und in dem immer mehr Menschen arbeitslos sind, während der Rest der Bevölkerung immer mehr Überstunden machen muss. Er sagt das in einem Land, in dem Konzerne Steuererleichterungen bekommen, während bei vielen Familien die Wohnung kalt bleibt und Klassenfahrten kaum finanziert werden können. Mit dem Geld, das in die Rüstung gesteckt wird, könnte das mit einem Schlag erledigt werden. Und nicht nur das: Wir könnten alle Rentnerinnen und Rentner aus der Armut befreien, ein elternunabhängiges BAföG einführen und Züge und Bahnen kostenlos machen und ausbauen. Und wahrscheinlich ginge mit diesen Summen noch viel, viel mehr. Aber all das passiert nicht. Wenn Boris Pistorius meint, in dieser Gesellschaft zu leben, sei ein Geschenk, dann meint er damit: Ein Geschenk für die Reichen und die Konzerne. Die Aktien von Rüstungskonzernen wie Rheinmetall schießen in die Höhe. Aber genau das geht auf Kosten der Schülerinnen und Schüler, der Studierenden, der gesamten Arbeiterklasse. Die Aufrüstung ist eine politische Entscheidung für die Profite und gegen die übergroße Mehrheit der Bevölkerung. Denn im Kapitalismus sind die Menschen egal. Im Kapitalismus geht es nur um Profit.
Und dafür will man uns jetzt auch noch in den Krieg zwingen. Dafür sollen wir jetzt mit der Wehrpflicht in die Kasernen gezwungen werden – für die Profite, für die Absatzmärkte, für die Handelsrouten der Großkonzerne, was die Bundeswehr ganz offen benennt. Im Schützengraben werden aber nicht die Kinder und Enkel derjenigen sitzen, die davon profitieren. Im Schützengraben werden weder die Kinder und Enkel von Rheinmetall-Chef Pappberger noch Verteidigungsminister Boris Pistorius sitzen. Das Sterben werden sie uns überlassen. Wir sollen gegen Menschen kämpfen, die genau wie wir unter der Heizrechnung und den steigenden Preisen leiden. Wir solle gegen Menschen kämpfen, die nur zufällig in einem anderen Land geboren wurden, obwohl wir mit ihnen mehr gemeinsam haben, als mit jedem CEO, Kanzler und Superreichen.
Boris Pistorius meint, unsere Art zu leben sei ein Geschenk. Das stimmt nicht. Das Schulsystem, die Versammlungsfreiheit, sie sind keine Geschenke. Sie wurden, ebenso wie das Wahlrecht, von der Bevölkerung in der Novemberrevolution 1918 erkämpft. Die Abschaffung der Prügelstrafe in der Schule, höhere Löhne, Pausen an der Arbeit, all das wurde erkämpft. Nein, diese Art zu leben ist kein Geschenk. Vielleicht sollte Boris Pistorius nochmal in die Schule gehen, um zu sehen, wie es in den Schulen wirklich aussieht, und um mal in Geschichtsbücher zu schauen.
Boris Pistorius sagt in seinem Video, dass wir hier in diesem Land ja wirklich alles sagen dürften. Sagen ja – nur mitbestimmen, über unser Leben bestimmen dürfen wir nicht. Die große Mehrheit der Jugendlichen ist gegen die Wehrpflicht. Und trotzdem haben sie heute das sogenannte Wehrdienstgesetz beschlossen, obwohl sich so viele dagegen ausgesprochen haben und es keine einzige Demonstration für die Wehrpflicht gegeben hat. Wenn wir die Wehrpflicht verhindern wollen, dann gibt es nur einen Weg, das zu tun: Wir müssen dafür kämpfen. Wenn wir die Wehrpflicht verhindern wollen, können wir uns nur auf unsere eigene Kraft verlassen. Und dafür haben wir heute einen starken Anfang gemacht: Wir sind in mehr als 100 Städten auf der Straße und im Streik. Boris Pistorius, hier stehen die Leute, die sie in den Schützengraben schicken wollen. Und wir erklären heute gemeinsam: Das werden wir nicht mitmachen. Gehen Sie doch selbst!



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