Zum Tod von Rolf Becker

Erinnern und weitergehen – Trotz alledem!

Am 12. Dezember starb unser Kollege, Genosse und Freund Rolf Becker im Alter von 90 Jahren. Mit ihm verliert die politische Linke einen Streiter für Frieden und Gerechtigkeit, dessen Leben bis zum Schluss geprägt war vom Widerspruch zu den Widersprüchen unserer Zeit. Als wortgewaltiger Redner, der seine Argumente mit dem klaren Blick eines Marxisten, mit der Leidenschaft eines Gewerkschafters und mit der Sensibilität eines Kulturschaffenden vorzutragen wusste, war Rolf seit vielen Jahrzehnten ein gern gesehener Gast auf Ostermärschen, Gedenkveranstaltungen und Gewerkschaftskongressen. Eine der letzten großen Konferenzen war die Gewerkschaftskonferenz für den Frieden in Stuttgart, wo er mit seinem empfindsam vorgetragenen Ossietzky-Programm die Herzen seiner Zuhörer berührte.

Kein Weg war ihm zu weit, kein Anlass zu gering, um mit Kollegen, Genossen und Freunden einen Abend lang zu diskutieren, wie die Welt gemeinsam besser gemacht werden könnte. Seine Sprache war die Kunst. Eine Sprache, mit der er die gesellschaftlichen Widersprüche erklärlich machte.

Und Rolf hat diese Sprache nie verkauft. Der große Schauspieler spielte lieber in Unterhaltungsserien, als in Filmen an der Geschichtsklitterung und Propaganda von oben mitzuwirken. Stattdessen schenkte er uns wunderbare Bühnenprogramme, die uns zum Nachdenken brachten. Zu Heinrich Heine, zu Ossietzky, zu Franz Josef Degenhardt.

Unvergessen bleibt sein Fundus an Brecht-Zitaten, denn „es ist eine Kluft zwischen oben und unten, größer als zwischen dem Berg Himalaja und dem Meer. Und was oben vorgeht, erfährt man unten nicht. Und nicht oben, was unten vorgeht. Und es sind zwei Sprachen – oben und unten. Und zwei Maße zu messen. Und was Menschengesicht trägt, kennt sich nicht mehr. Die aber unten sind, werden unten gehalten, damit die oben sind, oben bleiben“, zitierte er besonders gern aus „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“.

Eine Frage, die ihn Zeit seines Lebens besonders umtrieb, war, welche Lehren aus der Zeit des Faschismus zu ziehen waren. Unvergessen bleiben seine gemeinsamen Auftritte mit Esther Bejarano. „Wir haben das Schweigen nach 1945 erlebt“, sagten sie bei diesen Auftritten. „Wir haben erlebt, wie Naziverbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell, die Nazis waren gar nicht weg.“

Das Ringen um den Blick auf die Geschichte bestimmte Rolfs Wirken. Und es bestimmte die Nachkriegszeit. Es war ein umkämpftes Kräfteverhältnis, bei dem gewerkschaftliche Regionalforschung, Initiativen zur Straßenumbenennung und Zeitzeugengespräche ihren Anteil daran hatten, dass öffentlich über Massenerschießungen, Konzentrationslager, Antisemitismus, industriellen Massenmord, Zwangsarbeit und Kriegswirtschaft gesprochen werden musste, statt stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen. All die Jahre und Jahrzehnte rangen konservative und fortschrittliche Kräfte um die Deutungshoheit über die Geschichte. Lange wirkten die Kriegserfahrungen und das Engagement von Rolf, Esther und anderen wie ein Bollwerk gegen einen allzu leichtfertigen Rückgriff auf die Geschichte. Eine Entwicklung, die sich mit dem Ausrufen der Zeitenwende durch Olaf Scholz änderte. Am Druck der Militaristen und Kriegstreiber barst die von unten erkämpfte Erinnerungskultur. Auf einmal wurde Unsagbares wieder sagbar und das bislang Sagbare auf einmal unsagbar.

Plötzlich sollte der rote Winkel der politischen Häftlinge in den Konzen­trationslagern als „Hamas-Symbol“ verboten werden. Russische Staatsbürger wurden von den offiziellen Gedenkfeiern anlässlich des 80. Jahrestages des Kriegsendes ausgeladen, die Gedenkstätten angewiesen, „vom Hausrecht Gebrauch zu machen“. Und um die angebliche Notwendigkeit für Sozialabbau und Aufrüstung zu begründen, wurde wieder auf Zitate aus der Nazi-Zeit zurückgegriffen: Kanonen statt Butter! Oder: Kriegstüchtigkeit!

Geschehenes Unrecht nicht einfach hinnehmen zu wollen, nicht hinnehmen zu können, das war es, was Rolf dazu veranlasste, bis zum Schluss auf der Bühne zu stehen und mit großer politischer Klarheit auf diese Entwicklungen hinzuweisen – wie zuletzt bei der Verleihung des Rosa-Luxemburg-Preises in Berlin. Dort unterstrich er, dass uns die Erinnerung an die 27 Millionen von Deutschland ermordeten Bürgern der So­wjet­union dazu verpflichtet, den Frieden zu bewahren. „Ohne die persönlichen Kriegserfahrungen“, erzählte er mir einmal, „wäre ich vermutlich heute so gutgläubig wie viele unter uns, die den in die Irre führenden Erklärungen aus Regierungskreisen und in den Medien vertrauen.“ Und er ergänzte, es seien diese Erklärungen, die ihn, Jahrgang 1935, vielfach an die Propaganda der letzten Kriegsjahre erinnerten.

Doch es waren nicht nur die eigenen Kriegserfahrungen, die ihn antrieben, sich mit einer unbeschreiblichen Rastlosigkeit für den Frieden zu engagieren. Es war vor allem eine tief sitzende Klassensolidarität. Als aktiver Gewerkschafter wusste Rolf, wer auf den Schlachtfeldern der Geschichte gekämpft und wer dies nicht getan hatte. Auf den Gedenksteinen der im Ersten oder Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten standen nie die Namen von Kriegsministern, Rüstungsfabrikanten oder Militärexperten, sondern stets die von Industrieschlossern, Elektrikern oder Straßenbahnfahrern. Rolf hatte eine klare Vorstellung von der Welt. Die geopolitischen Zuspitzungen und die wachsende Kriegsgefahr analysierte er klar als einen im Niedergang befindlichen und deshalb um so bedrohlicher agierenden Kapitalismus. Vielleicht auch deshalb erkannte er klarer und schneller als viele andere, dass die Zeiten sich änderten. Dass die Diskussionen über Aufrüstung und Wehrpflicht keine unverbindlichen Entwicklungen waren und darum auch nicht folgenlos bleiben würden. Rolf erkannte, dass die Bundesregierung den Krieg vorbereitete. Und er bemühte sich umso mehr darum, seinen Beitrag zu leisten, den in Vorbereitung befindlichen, kommenden großen Krieg zu verhindern.

Im vergangenen April verliehen ihm die „junge Welt“ und „Melodie & Rhythmus“ dafür den Rosa-Luxemburg-Preis. Rolf sagte an diesem Abend mit der für ihn typischen Bescheidenheit wie politischen Klarheit: „Dieser Preis gehört euch allen. Nicht einzelne können Massen bewegen. Umgekehrt: Die Bewegungen in der Gesellschaft bewegen den Einzelnen. Und er versucht das zu formulieren und weiterzutragen.“

521102 Rolf Becker Shari Deymann depositphotos bgremover - Erinnern und weitergehen – Trotz alledem! - Antifaschistischer Kampf, Friedensaktivist, Gedenken, Gewerkschafter, Künstler für den Frieden, Rolf Becker, Schauspieler, Todestag - Kultur
… und bei einem Auftritt von Esther Bejarano auf dem UZ-Pressefest in Dortmund (Foto: Shari Deymann)

Rolf hat ebenso wie die Namensgeberin dieses Preises, Rosa Luxemburg, stets mit wachen Augen auf die von Krise, Krieg und Ungerechtigkeit gebeutelte Gesellschaft geschaut. Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat. Das als wahr Erkannte auszusprechen ohne Rücksicht auf mögliche persönliche Konsequenzen. Das war Rolf. Ein Leben lang. Die Kraft dafür schöpfte er aus der Erkenntnis, dass das Grundübel von Faschismus und Krieg eine Gesellschaftsordnung ist, die die Profite der Wenigen höher stellt als ein Leben in Würde für die Mehrheit. Und Rolf ist ein Beispiel dafür, dass wir unsere Zuversicht und Stärke aus der Vision einer Gesellschaft ziehen können, in der wir alle frei und gleich miteinander leben könnten. Rolf war Kommunist, einer, der in der Tradition der KPD-Opposition um August Thalheimer und Heinrich Brandler stand. Und wie jeder Kommunist brauchte er eine revolutionäre Gruppe, eine die ihm dabei half, die eigenen Argumente zu schärfen, sich zu überprüfen, sich aufzurichten. Die Genossinnen und Genossen der Gruppe Arbeiterpolitik waren nicht ohne Grund bis zum Schluss seine engsten Weggefährten.

Doch Rolf war nicht nur Kollege und Genosse. Rolf war für viele von uns vor allem ein Freund. Er begegnete jedem mit einer Freundlichkeit und Zugewandtheit, wie sie selten anzutreffen sind. Und er verstand es, mit der gleichen Freundlichkeit und Zugewandtheit zum Widerspruch herauszufordern.

Rolfs Tod reißt eine Lücke in unsere Reihen – wir werden es bemerken bei den vor uns liegenden Ostermärschen, bei den nächsten Gewerkschaftskonferenzen, am Antikriegstag und bei den UZ-Friedenstagen. Wir verlieren mit ihm einen Kollegen und Freund, der uns mit seiner Kunst, mit seinem Rat und seiner Kraft zur Seite stand. Ein Freund, der uns neun Jahrzehnte lang ein Beispiel dafür gab, dass es leicht ist, mit durchgedrücktem Rücken Nein zu sagen, wenn sich die Dinge in die falsche Richtung entwickeln.

Was würde Rolf uns raten, würden wir ihn fragen, wie wir mit diesem Verlust umgehen sollen? Zweifelsohne würde er ein Brecht-Zitat aus der Tasche ziehen und ganz sicher eines, das unseren Blick auf die in Klassen gespaltene Gesellschaft lenken würde. Besonders gern zitierte er aus „Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit“ und mit großer Wahrscheinlichkeit würde er uns diese Passage in die Agenda schreiben: „Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis nicht gedient ist, ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann) ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. Was nutzt es da, etwas Mutiges zu schreiben, aus dem hervorgeht, dass der Zustand, in den wir versinken, ein barbarischer ist (was wahr ist), wenn nicht klar ist, warum wir in diesen Zustand geraten? Wir müssen sagen, dass gefoltert wird, weil die Eigentumsverhältnisse bleiben sollen. Freilich, wenn wir dies sagen, verlieren wir viele Freunde, die gegen das Foltern sind, weil sie glauben, die Eigentumsverhältnisse könnten auch ohne Foltern aufrechterhalten bleiben (was unwahr ist). Wir müssen die Wahrheit über die barbarischen Zustände in unserem Land sagen, dass das getan werden kann, was sie zum Verschwinden bringt, nämlich das, wodurch die Eigentumsverhältnisse geändert werden“.

Rolf lag schon im Krankenhaus, als wir vor einigen Wochen miteinander telefonierten, um uns voneinander zu verabschieden. Wie immer fand er schöne und leichte Wort für diesen schweren Anlass. Er machte mir Mut, nicht umgekehrt. Und er bat mich, politisch weiterzumachen, nicht nachzulassen …

Und deshalb sage ich: Auf unserem Weg in eine gerechte Welt politische Weggefährten zu verlieren ist schmerzlich, das unterstreicht Rolfs Tod einmal mehr. Aber es gehört zu diesem Weg dazu. Unsere Aufgabe ist es, diesen Weg fortzusetzen. Mit der gleichen Unbeirrbarkeit. Mit der gleichen Rastlosigkeit. Trotz alledem!

Rolf Becker: Künstler, Gewerkschafter, Kämpfer, Genosse

Rolf Becker: „Fidel Castro: Die Geschichte wird mich freisprechen“
„Verurteilen Sie mich, es hat keine Bedeutung. Die Geschichte wird mich freisprechen.“ Fidel Castro. Live-Mitschnitt der von Rolf Becker vorgetragenen Verteidigungsrede.
Verlag 8. Mai, Audio-CD, 9,90 Euro

Rolf Becker: „Karl Marx/Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest“
Mit Verve gelesen: Ungekürzter Originaltext von Marx und Engels sowie Eric Hobsbawms Sekundärtext.
Argument mit Ariadne, Hörbuch, 20 Euro

Rolf Becker/Hannes Zerbe: „Das Floß der Verdammten“
Eine Komposition von Hannes Zerbe zu Texten von Ernst Schnabel über die tausende „Flöße der Medusa“ im Mittelmeer, vorgetragen von Rolf Becker.
Verlag 8. Mai, DVD mit Booklet, 12,90 Euro

Rolf Becker: „Dietrich Kittner – Gütesiegel Fernsehverbot“
Einer der schärfsten, konsequentesten Aufklärer der alten BRD, Dietrich Kittner, wird durch Rolf Becker großartig interpretiert. Lebendige Aufzeichnung.
Yellow Snake Records, Audio CD, 16,95 Euro

Rolf Becker | uzshop.de

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"Erinnern und weitergehen – Trotz alledem!", UZ vom 26. Dezember 2025



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