Die Aktivrente dient nur dem Zweck, den Weg zur Rente mit 70 zu ebnen

Ernsthaft? Die Alten sollen die Rettung sein?

Reiner Heyse

Die deutsche Wirtschaft liegt darnieder. Seit fünf (!) Jahren gibt es kein Wachstum mehr. Von 2019 bis 2024 gab es ein reales BIP-Wachstum von insgesamt nur 0,3 Prozent. Die Produktivität legte in diesem Zeitraum um jämmerliche 0,3 Prozent pro Jahr zu. Im langjährigen Mittel (1991 bis 2020) waren das 1,2 Prozent pro Jahr. Die unfassbar einfache Lösung aus diesem Dilemma hat jetzt endlich die neue Bundesregierung gefunden: In Deutschland muss mehr gearbeitet werden.

Und wer muss mehr arbeiten? „Machen wir es konkret“, kündigte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann Ende Mai bei Caren Miosga an: Die Alten sollen gefälligst länger arbeiten. Sie sollen später in Rente gehen oder auch im Rentenalter weiterarbeiten. Damit steht Linnemann nicht allein. Er vertritt den Willen sowohl von Bundeskanzler Friedrich Merz als auch von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche.

Zunächst soll dies nicht durch Zwang, sondern mithilfe von Anreizen durchgesetzt werden. Wer über die gesetzliche Rentenaltersgrenze hinaus arbeitet, soll bis zu 2.000 Euro seines Monatslohns steuerfrei beziehen. Was soll das bringen? Erwartungsgemäß kaum Spürbares, außer Propaganda für die Rente mit 70.

Bereits jetzt wird das Arbeiten im Rentenalter „belohnt“. Für jeden Monat, der trotz Erreichens des Rentenalters weitergearbeitet wird, erhöht sich die Rentenanwartschaft um 0,5 Prozent. In einem Jahr erhöht sich die Rente also um 6 Prozent, nach zwei Jahren um 12 Prozent. Zusätzlich entfallen die Beiträge für die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Damit werden etwa 11 Prozent weniger vom Lohn abgezogen.

Bewirkt haben diese Anreize jedoch so gut wie nichts. Im Gegenteil: Der Wille unter den Betroffenen, vor dem gesetzlichen Renteneintrittsalter in Rente zu gehen, ist ungebrochen hoch. Das beweisen nicht nur zahlreiche Umfragen, sondern vor allem auch reale Zahlen.

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) weist nach, dass 36 Prozent der Renten mit Abschlägen versehen werden. Im Durchschnitt sind die betroffenen Rentnerinnen und Rentner 32 Monate früher in Rente gegangen und mussten somit 9,6 Prozent weniger Rente in Kauf nehmen. Die Zahlen der im Jahr 2023 neu in Rente Gegangenen beweisen, dass der Wille, früher in Rente zu gehen, noch zunimmt. Bereits 38 Prozent von ihnen erhielten Renten mit ähnlich hohen Abschlägen. Wäre die Abschlagsfreiheit nach 45 Beitragsjahren – wie vielfach von neoliberalen „Rentenexperten“ und Politikern gefordert – abgeschafft worden, hätte der Anteil der Abschlagsrenten wahrscheinlich schon 50 Prozent erreicht.

Der Versichertenbericht 2024 der DRV belegt eindringlich, dass nur ein kleiner Anteil der gesetzlich Rentenversicherten willens oder fähig ist, im Rentenalter weiter zu arbeiten (Zahlen von 2022). Daran haben auch die bisherigen „Belohnungen“ nichts geändert.

Lediglich 21.000 Personen arbeiteten in versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, ohne eine Rente zu beziehen. Das heißt sie zahlen weiterhin in die Rentenversicherung ein, um ihre Anwartschaft zusätzlich zu erhöhen.

1,1 Millionen arbeiteten neben ihrem Rentenbezug (und zahlten somit keine Rentenversicherungsbeiträge). Von diesen 1,1 Millionen befanden sich 870.000 in Mini-Jobs und 240.000 befanden sich in mehr als geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Das bedeutet, dass gerade einmal 1,3 Prozent der Rentnerinnen und Rentner über der Regelaltersgrenze noch in Voll- oder Teilzeitjobs arbeiten. Ein großer Teil von ihnen tut dies, weil die Rente einfach nicht für ein menschenwürdiges Leben ausreicht. Diejenigen mit Minirenten und wahrscheinlich auch entsprechenden Minilöhnen werden von den Segnungen der 2.000-Euro-Steuerbefreiung nur sehr wenig bis nichts zu spüren bekommen.

Als Wirkung der „Aktivrente“ bleibt also nur das übrig, was Fachleute der Arbeitsagenturen und der Rentenversicherung erwarten: ein Mitnahmeeffekt für diejenigen, die ohnehin schon relativ gut bezahlt im Rentenalter weiter arbeiten.

Das Projekt „Aktivrente“ hat offensichtlich weder wirtschafts- noch arbeitsmarktpolitische Ziele. Es ebnet eher den Weg für ein verordnetes längeres Arbeiten im Alter, die Rente ab 70.

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"Ernsthaft? Die Alten sollen die Rettung sein?", UZ vom 20. Juni 2025



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