Es gilt das gesprochene Wort.
Im Rechenschaftsbericht des Parteivorstands heißt es: „Der Imperialismus spitzte die Angriffe auf China zu (…)“. Dies impliziert, dass es sich beim Imperialismus nicht um das – wie von Lenin definiert – „höchste Stadium“ des Kapitalismus handeln würde, sondern um „den Westen“, also die NATO und ihre Verbündeten. Dies ist ein Imperialismusverständnis, das ich für grundlegend falsch halte und sich meiner Meinung nach nicht in der Gesamtpartei durchsetzen sollte. Denn eine falsche theoretische Analyse führt zu falschem praktischen Handeln, weshalb ich hier auf diesen Fehler eingehen möchte.
Korrekterweise müsste es im PV-Bericht heißen: „Der westliche Imperialismus spitzte die Angriffe auf China zu“. Ich halte die Einschätzung, dass es lediglich einen Imperialismus der USA und ihrer Verbündeten gibt, für falsch.
Aber unabhängig davon, ob man nun Länder wie Russland als imperialistisch einschätzt oder eben nicht, ergibt der Satz ohne die Ergänzung „westlichen“ keinen Sinn. Würde der Imperialismus als Ganzes zurückgedrängt werden, würde dies aus marxistischer Sicht einen der beiden folgenden Fälle bedeuten:
- Die Welt entwickelt sich zurück zu einem kapitalistischen Stadium der freien Konkurrenz – wie vor dem Imperialismus.
- Die Welt entwickelt sich weiter zum Sozialismus.
Ersteres können wir ohne Frage schnell als Unsinn entlarven. Es gibt kein Zurück in der Weltgeschichte, und das Stadium des Imperialismus bereitet den Weg für den Sozialismus. Der Satz des PV suggeriert, dass wir schon in einem Stadium sind, in dem der Imperialismus an sich zurückgedrängt wird, was nur den Schluss übrig lässt, dass der sozialistische Aufbau bevorsteht.
Das halte ich für die falsche Schlussfolgerung. Es ist vielmehr so, dass in dem Status der multipolaren Weltordnung der westliche Imperialismus an Bedeutung verliert und andere kapitalistische Staaten anstreben werden, diesen Platz einzunehmen. Nur weil kapitalistische Staaten derzeit nicht im imperialistischen Stadium sind, heißt das nicht, dass sie dieses Stadium nicht anstreben, sofern sich die Möglichkeit für das jeweilige nationale Kapital ergibt.
Dass die Aufteilung der Welt abgeschlossen ist, wie Lenin sagte, ist nicht so zu verstehen, dass sich im imperialistischen Stadium des Kapitalismus die Machtverhältnisse nicht verändern können. Zu Lenins Lebzeiten gab es weniger imperialistische Länder, als es sie heute gibt. Die Machtverhältnisse haben sich deutlich verschoben – zuungunsten des britischen und zugunsten des US-amerikanischen Imperialismus. Der sich anbahnende Untergang des heute bedeutendsten imperialistischen Staates, der USA, sollte nicht zu dem Fehlschluss führen, der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus wäre am Beginn des Zusammenbruchs. Keiner der BRICS-Staaten ist ein sich im Sozialismus befindliches Land, lediglich China bezeichnet sich selbst als „in der Anfangsetappe des Sozialismus“ befindlich, auch wenn der PV das in seinem Rechenschaftsbericht anders sieht. Dort wird klar vom „sozialistischen China“ gesprochen – eine Einschätzung, die meiner Meinung nach auf dem unscharfen Imperialismusverständnis beruht. Wenn es „den Imperialismus“ lediglich durch „den Westen“ verkörpert gibt, dann sind in der Schlussfolgerung alle Länder, die einen Gegenspieler oder einen Ausgebeuteten des Westens darstellen, objektiv antiimperialistisch. Dann kommt man auch zu der Einschätzung, dass Russland in der Ukraine einen nationalen Befreiungskampf führt. Dem möchte ich widersprechen. Dass etwa China einen großen Teil kapitalistischer Marktelemente eingeführt hat, und auch infrage gestellt wird, ob die Abschaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln überhaupt noch notwendig sei, lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Entweder ist China noch nicht sozialistisch, und wir können darüber streiten, ob es sich auf diesem Weg befindet, oder aber wir lassen unsere bisherige Sozialismusdefinition fallen. Auf dem Festival der Jugend resümierte Björn Blach, dass die Einschätzung, China befinde sich auf dem Weg zum Sozialismus, davon abhänge, ob man der KPCh glaube, dass sie eine echte Kommunistische Partei ist oder eben nicht.
Diese Aussage ist wahr. Wir sollten als Kommunisten jedoch keine Debatten führen, indem wir Dinge glauben oder nicht glauben, sondern unsere Hypothesen mit Fakten belegen. Der Marxismus ist eine Wissenschaft – und wenn uns die Vergangenheit und die Gegenwart eines gelehrt haben sollten, dann das, dass wir nicht einzelne Elemente aus diesem geschlossenen System herauspicken können, um unsere Thesen zu belegen. Zu oft führte diese Herangehensweise zu einem falschen Marxismusverständnis und zu falschen theoretischen Ableitungen, die eine falsche Praxis nach sich zogen. Das Hoffen darauf, dass es bei dem immer aggressiveren Agieren der niedergehenden imperialistischen Staaten einen Gegenpol gibt, der die Flamme des Sozialismus weiterträgt, und in einer Weltlage, die einen zunehmend negativ stimmen kann, eine Kraft existiert, die eine ähnlich positive Rolle für die Entwicklung der weltweiten Klassenkämpfe spielen kann wie früher die Sowjetunion, halte ich für nachvollziehbar.
Aber so sehr ich dieses Bedürfnis verstehen kann, halte ich es für trügerisch. Eine multipolare Weltordnung mag den ökonomischen Aufschwung des nationalen Kapitals bisher stärker ausgebeuteter Länder bedeuten, und damit auch eine Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiterklasse in den jeweiligen Staaten. Es bedeutet aber keinesfalls, dass die Epoche des Sozialismus eingeläutet wird beziehungsweise der Imperialismus an sich zurückgedrängt wird. Im Gegenteil kann es heißen, dass Länder, die bisher keine Chance auf imperialistische Machtansprüche hatten, diese nun geltend zu machen versuchen, was die Gefahr eines Weltkriegs nicht senkt, sondern erhöht. Die Zeiten mögen trübe sein, und wir uns einen einfachen Ausweg, einen starken Gegenpol wünschen. Aber wenn dieser nicht existiert, dann müssen wir ihn eben selbst schaffen. Denn:
„Trotz Misstraun, Angst und alledem, es kommt dazu trotz alledem, dass sich die Furcht in Widerstand verwandeln wird trotz alledem!“