Westliche Staaten machen sich aus wirtschaftlichen Interessen zu Komplizen des Völkermords in Gaza

Geopolitik und Genozid

Israel begeht einen Genozid. Zu diesem Schluss kam jüngst eine unabhängige Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats. Vier von fünf Tatbeständen, die in der 1948 verabschiedeten und von 153 Staaten ratifizierten UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (UN-Genozidkonvention) niedergelegt sind, würden im Gaza-Vernichtungsfeldzug erfüllt, so die Experten: Israel töte Gazas Bevölkerung, verursache schwere körperliche und seelische Schäden, schaffe vorsätzlich Lebensbedingungen, die auf die vollständige oder teilweise Zerstörung der palästinensischen Bevölkerung abzielten und ergreife zudem Maßnahmen zur Verhinderung von Geburten.

Die dreiköpfige Kommission wies auch auf die Verantwortung der sogenannten internationalen Gemeinschaft hin, Israels Genozid zu stoppen. Spätestens die Feststellung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Januar 2024, der Völkermordvorwurf gegen Israel sei plausibel, habe „alle Staaten auf den Plan gerufen“. Denn Vertragsstaaten, insbesondere Israels wichtigste Waffenlieferanten USA und Deutschland, gegen das vor dem IGH ein Verfahren wegen Beihilfe zum Genozid läuft, sind verpflichtet, alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zur Verhinderung dieses Verbrechens einzusetzen.

Zwar hat die Bundesregierung ihre Rüstungsexporte nach Israel im August nach eigenem Bekunden eingeschränkt: Waffen, die im Gaza-Krieg verwendet werden könnten, sollten gestoppt werden, wie Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) erklärte. Allerdings gibt es faktisch keine Möglichkeit, zu kontrollieren, welche Waffen Israel bei seinen ebenfalls völkerrechtswidrigen Überfällen auf Nachbarländer und das Westjordanland einsetzt – und mit welchen es in Gaza mordet. Zudem bezieht sich der Stopp nicht auf bereits erteilte Genehmigungen und birgt zahlreiche Schlupflöcher. Schon die Ampel-Regierung täuschte nachweislich über die Lieferung von Mordwerkzeug nach Israel, fällte Entscheidungen am zuständigen Bundessicherheitsrat vorbei und entging so Berichtspflichten. Vorzulegende Rüstungsexportberichte fehlen oder sind lückenhaft. Rüstungskonzerne planen bereits, den Teil-Lieferstopp zu umgehen: So hat zum Beispiel die Augsburger Renk AG angekündigt, für Israel vorgesehene Panzerersatzteile zukünftig in den USA herzustellen.

Israels Politik der Vernichtung

Anhand einer Untersuchung der systematischen israelischen Zerstörung des Gesundheitssystems im Gazastreifen hat die israelische Organisation „Ärzte für Menschenrechte“ (Physicians for Human Rights, PHR) im Juli dargelegt, wie „grundlegende Überlebensstrukturen“ ausgemerzt werden. Medizinische Evakuierungen würden behindert, Gesundheitspersonal und Krankenhäuser gezielt ins Visier genommen und die Einfuhr von Medikamenten unterbunden. Der Hungertod werde als Kriegsmittel eingesetzt. PHR sowie die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem kommen ebenfalls zu dem Schluss, Israel begehe Völkermord. Als Beleg führt PHR auch die systematische Umweltzerstörung im Gazastreifen an. Im Juni seien 93 Prozent der Haushalte von Wasserunsicherheit betroffen gewesen, das Ackerland und 80 Prozent der Bäume seien zerstört sowie 95 Prozent des Viehbestands getötet worden. Neben der Verhinderung der Einfuhr von Hilfsgütern sei auch dies ein Grund, dass über eine Million Menschen und damit fast die Hälfte der Bevölkerung mit einer Notlage der Ernährungssicherheit konfrontiert sei, für 470.000 Menschen habe diese katastrophale Ausmaße. Neben den mindestens 65.000 Getöteten seien über 140.000 Palästinenser verletzt worden, mindestens 4.700 seien amputiert und mindestens 4.300 auf Prothesen oder Mobilitätshilfen angewiesen. Man habe es nicht mit Kriegsfolgen zu tun, sondern „mit einer Politik der Vernichtung, die durch den systematischen Zusammenbruch von Gesundheit, Wasser, Nahrung und Unterkunft verfolgt wird“. Dass genau dies das Ziel ist, haben hochrangige israelische Militärs und Politiker schon im Oktober 2023 unmissverständlich und öffentlich gesagt.

Annexion des Westjordanlands

Immer lauter wird in Israel das pseudoreligiös begründete Ziel propagiert, ein Groß-Israel mit unterschiedlich weit definierten Grenzen zu schaffen – und in Palästina selbst, im Libanon und in Syrien längst in die Tat umgesetzt. Seit Jahrzehnten wird der Siedlerkolonialismus „religiös“ begründet. Dabei dürften wirtschaftliche Inte­ressen eine weit größere Rolle spielen. Der rechts­extreme israelische Finanzminister Bezalel Smotrich nannte den Gazastreifen kürzlich eine „Immobilien-Goldgrube“. Schließlich habe man viel Geld in den Krieg investiert, in dem der Gazastreifen dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es gebe einen „Ge­schäftsplan“, so Smotrich, der „auf dem Tisch von Trump“ liege, der die Küsten­enklave schon vor Monaten zu einer „neuen Riviera des Nahen Ostens“ machen wollte. Die bei Neubauprojekten übliche „Phase der Zerstörung“ habe man bereits hinter sich. „Jetzt müssen wir bauen, das ist sehr viel billiger.“

Im Westjordanland kam es unter der aktuellen Regierung Netanjahu zu einem Anstieg des völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungsbaus um 40 Prozent. Vor zwei Wochen legte Smotrich seine Pläne vor, 82 Prozent des Westjordanlands zu annektieren – als „präventiven Schritt gegen die diplomatische Attacke, die gegen uns geplant ist“, womit er die weltweit zunehmenden Bestrebungen meinte, Palästina als Staat anzuerkennen. Bereits im Juli beschloss das israelische Parlament mit 71 zu 13 Stimmen in einer nicht bindenden Resolution die Annexion des Westjordanlands als „untrennbaren Teil des Landes Israel, der historischen, kulturellen und spirituellen Heimat des jüdischen Volkes“. 1967, als Israel im Sechstagekrieg die palästinensischen Gebiete, die syrischen Golanhöhen und den später an Ägypten zurückgegebenen Sinai besetzte, habe die Besatzung nicht begonnen, sondern geendet, erklärte Knesset-Sprecher Amit Ohana nach der Abstimmung. Die Rückendeckung der US-Regierung ist den Fanatikern sicher. Auch der US-amerikanische Botschafter in Israel, der evangelikale Christ Mike Huckabee, ist der Meinung, „so etwas wie einen Palästinenser“ gebe es nicht. Palästinenser seien lediglich „ein politisches Werkzeug, um Israel Gebiete abzutrotzen“.

Kampf um Einflusszonen

Aber es geht beim Krieg gegen Palästina und die Nachbarstaaten Israels um weit mehr als „religiös“ verbrämten Fanatismus: im Zentrum stehen Lieferketten und wirtschaftliche Inte­ressen. Der Westen und seine Verbündeten wollen die zunehmende chinesische Präsenz in Westasien (Naher und Mittlerer Osten) zurückdrängen und die eigene Kontrolle über Seehandelsrouten ausbauen.

Die USA schielen seit Langem auf den ägyptischen Suezkanal, dessen Kontrolle aber aufgrund der engen ägyptischen Beziehungen zu Russland und China als nahezu unmöglich erscheint. Unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi sind die ägyptischen Exporte nach Russland im Jahr 2022 um fast 22 Prozent gestiegen, die ägyptischen Importe aus Russland erhöhten sich um 15,5 Prozent. Zudem wurde Ägypten im Januar 2024 als Mitglied der BRICS-Staaten aufgenommen. Die chinesischen Importe nach Europa verlaufen zu 60 Prozent über den Suezkanal, in den China bemerkenswerte Investitionen getätigt hat.

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Das Gesundheitswesen in Gaza wurde gezielt zerstört – das nennt man Völkermord. (Foto: Palestine Red Crescent Society)

Alternative zur Neuen Seidenstraße

Auf dem im Jahr 2023 in Indien abgehaltenen G20-Gipfel wurde ein neues Mammutprojekt verkündet, das neben wirtschaftlichen auch erhebliche geopolitische Implikationen birgt: der Wirtschaftskorridor Indien-Naher Osten-Europa (IMEC, Indo-European Corridor Project). Diesen wollen die USA, Israel, Indien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Saudi-Arabien, die EU, Frankreich, Deutschland und Italien verwirklichen. Der Korridor soll Indien über den Golf, Saudi-Arabien, Jordanien und Israel mit Europa verbinden, die Transitzeit von Waren zwischen Indien und Europa um 40 Prozent reduzieren und eine Alternative zu Chinas Belt and Road Initiative (BRI, „Neue Seidenstraße“) darstellen sowie diese schwächen.

Ägypten spielt eine wichtige Rolle im chinesischen Megaprojekt der Neuen Seidenstraße. Bereits im Jahr 2014 haben Peking und Kairo ein „Strategisches Partnerschaftsabkommen“ unterzeichnet, in dem sie eine enge Zusammenarbeit in den Gebieten Verteidigung, Technologie, Wirtschaft sowie der Bekämpfung des Terrorismus und der Cyberkriminalität vereinbarten. Zig Millionen US-Dollar investiert China in ägyptische Infrastrukturprojekte. In den Jahren 2017 bis 2022 stiegen die chinesischen Investitionen in Ägypten um 317 Prozent, während die US-amerikanischen im gleichen Zeitraum um 31 Prozent sanken.

Ein Teilstück des IMEC, in dessen Rahmen auch das Schienennetz in den betreffenden Staaten erheblich ausgebaut werden soll, wäre der Ben-Gurion-Kanal. Das Projekt war bereits in den 1960er Jahren im Gespräch, nachdem Gamal Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlicht hatte. In den letzten Jahren wird es wieder verstärkt diskutiert.

Die Bedeutung des Ben-Gurion-Kanals

Aktuell hat der im Jahr 1987 eröffnete ägyptische Suezkanal eine absolute Monopolstellung inne. Er verkürzt die Schifffahrtsroute zwischen Europa, Afrika und Asien immens. Er ist entscheidend für den Transport von Öl und Gas aus Westasien zu den europäischen und fernöstlichen Märkten. 12 bis 13 Prozent des Welthandels passieren diese Route – 25.000 Schiffe jährlich. Ägypten erzielt durch den Kanal mit 9,4 Milliarden US-Dollar etwa 2 Prozent seines BIP. Der Ben-Gurion-Kanal wäre eine ernste Konkurrenz, weil er im Gegensatz zum Suezkanal felsige Wände statt sandige Ufer hätte. Damit wäre fast keine Wartung erforderlich und er wäre in der Unterhaltung kostengünstiger. Zudem wäre er mit etwa 50 Metern Tiefe 10 Meter tiefer als der Suezkanal und würde darüber hinaus aufgrund der zwei geplanten Kanalarme die gleichzeitige Navigation von Schiffen in beide Richtungen ermöglichen. Der Ben-Gurion-Kanal könnte dem Suezkanal auch deshalb den Rang ablaufen, weil Risiken wie etwa die einwöchige Blockade des Suezkanals im März 2021, als das Containerschiff „Ever Given“ aufgrund starker Windböen inmitten der Wasserstraße feststeckte und mindestens 369 Schiffe mit einer Fracht im Wert von 9,6 Milliarden US-Dollar blockierte, durch seine größere Breite und Tiefe minimiert würden.

Der Ben-Gurion-Kanal soll das Rote Meer mit dem Mittelmeer verbinden und Ägyptens Monopol auf der wichtigsten Schifffahrtsroute zwischen Europa und Asien in Frage stellen. Der 257 Kilometer lange Ben-Gurion-Kanal würde die Negev-Wüste und das südliche Ende des Golfs von Akaba durchqueren, er soll in der israelischen Hafenstadt Eilat am Roten Meer entspringen, die jordanische Grenze überqueren, durch das Arabah-Tal verlaufen, ins Tote Meer münden und dann nordwärts um den Gazastreifen he­rum – oder noch besser durch den Gaza­streifen hindurch – bis zum Mittelmeer führen. Der Bau eines solchen Kanals würde zwar geschätzt bis zu 100 Milliarden US-Dollar in Anspruch nehmen, die potenziellen Gewinne dürften aber bei weitem überwiegen. Befürworter des Projekts prognostizieren einen Jahresumsatz von 10 Milliarden US-Dollar.

Allerdings stellt ein von der Hamas kontrollierter und/oder von einer widerständigen Bevölkerung besiedelter Gazastreifen ein Sicherheitsrisiko für das Großprojekt dar. Denn der Kanal würde nur wenige Dutzend Kilometer von der Küstenenklave entfernt verlaufen. Aus diesem Grund ist die Kontrolle über den Gazastreifen in den Augen Israels und seiner Verbündeten eine wichtige Voraussetzung für die Umsetzung. Gelänge die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, vor dessen Küste zudem Gasvorkommen ruhen – schätzungsweise 25 bis 30 Milliarden Kubikmeter, die über 15 Jahre gefördert werden könnten –, könnte die Route des Kanals sogar verkürzt und sein letzter Hafen in den Gazastreifen verlegt werden. Die Kosten würden so erheblich gesenkt.

Die tektonischen Verschiebungen, die eine Realisierung des Ben-Gurion-Kanals mit sich brächte, und die daraus resultierende massive Schwächung Russlands, Chinas, der Neuen Seidenstraße und der BRICS-Staaten sind nicht zu unterschätzen. Diese Ziele bieten einen relevanten Erklärungsstrang für die fortdauernde westliche Unterstützung des israelischen Genozids in Gaza sowie der israelischen Völkerrechtsbrüche in der gesamten Region.

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"Geopolitik und Genozid", UZ vom 26. September 2025



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