Vom 16. Oktober bis zum 3. November fand die erste Leserreise der UZ in die Volksrepublik China statt. Das Interesse war enorm, noch im November startete eine zweite Gruppe. Die erste hatte 31 Teilnehmer. Der deutsche Reiseleiter war Klaus Ludwig, der solche Touren seit Jahrzehnten organisiert. Seine Landeskenntnis und seine politische Erfahrung trugen dazu bei, dass alle beeindruckt und belehrt nach Hause zurückkehrten. Die Atmosphäre in der Gruppe war solidarisch und so ging es bei den gemeinsamen Abendessen an den runden Tischen, auf denen sich die Schüsseln mit den Speisen drehten, heiter bis fröhlich zu – nicht nur, weil wir fast überall mit feiner, sehr gemüsehaltiger und aromatischer chinesischer Küche traktiert wurden, sondern – behaupte ich mal –, weil wir überall, wohin wir kamen, auf selbstbewusste, gelassene und freundliche Menschen stießen.
Von Aggressivität keine Spur, ob in Shanghai, Shenzhen oder in der Uiguren-Region Xinjiang – für einen Bewohner der rempeligen Bundesrepublik, erst Recht Berlins, eine andere Welt. Wobei es unter 1,4 Milliarden Menschen auch sture Gestalten gibt. Man hüte sich zum Beispiel in China als Auto- oder Busfahrer, erst recht aber als Fußgänger, vor in Scharen neben den permanenten Autostaus auf separaten Wegen oder dem Bürgersteig elektrisch-lautlos einherrollenden Zweirädern aller Art. Soziale Kontrolle durch die haufenweise herumhängenden Kameras plus sofortiger Sanktion bei verkehrswidriger diagonaler Kreuzungsüberquerung? Irrtum. Wie unsere Busfahrer kollisionsfrei durchkamen, ist ein Rätsel.
Immer auf Achse
Auch eine UZ-Leserreise ist touristisch. Diese führte von Peking, wo es sofort nach der Landung zur Großen Mauer und zum Sommerpalast der Kaiser ging, mit dem Bus in die 120 Kilometer entfernte Küstenstadt Tianjin. Von dort ging es nach einer Übernachtung im ehemals deutschen Klub, heute „Klubhotel“, einem modernisierten Kasten aus der Zeit der schönfärberisch „Konzessionen“ genannten Stadtteile, die kein Chinese ohne Weiteres betreten durfte, vom neuen Bahnhof in Flughafendimensionen mit einem Hochgeschwindigkeitszug über 1.100 Kilometer nach Shanghai. Ebenfalls per Zug ging es weiter über 1.300 Kilometer ins grüne, wasserreiche und futuristische Shenzhen im Süden. Von dort mit einem Fünf-Stunden-Flug nach Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs. Der Flughafen wurde im April fertiggestellt, die Planung begann 2016, Bauzeit sechs Jahre, Kapazität etwa 50 Millionen Passagiere jährlich. Ein strategischer Bau für Import, Export und Tourismus in und aus umliegenden Ländern – wir trafen eine Reisegruppe aus Taiwan. Von Urumqi ging es 1.500 Kilometer weiter mit Bus und Bahn über die grünen Wüstenstädte Kolar, Kaqu und Aksu bis Kashgar. In Kolar gab es einen Park vor dem Hotel, in dem sich jeden Abend junge und ältere Frauen und Männer zum Musizieren und Tanzen oder Karten- und Go-Spiel versammeln. Alle vermutlich für die deutsche Gruppe kommandierte Freigänger aus den Uigurenlagern.
Ein Lob dem Algensalat
Von Aksu nach Kashgar, einer alten Handelsmetropole auf der antiken und der neuen Seidenstraße nicht weit von den Grenzen zu Pakistan, Afghanistan, Tadschikistan, Kirgisistan und Kasachstan, ging es am Fuß des Tienschan-Gebirges und am Rand der Taklamakan-Wüste, der zweitgrößten Sandwüste der Welt, über knapp 500 Kilometer mit einem „normalen“ Zug, der offene Liegewagen bereithielt. Der Zug hatte schon 2.500 Kilometer hinter sich, als wir einstiegen, und war wie alle anderen pünktlich. Der Flug Kashgar-Peking dauerte fünf Stunden, von dort ging es nach einem Tag Aufenthalt zurück nach Frankfurt am Main. Die Aufzählung besagt: Das Programm war hart. Oft nur eine Übernachtung pro Stadt, allerdings in modernisierten oder neuen Hotels mit großen Doppelzimmern und sehr breiten, guten Betten – plus chinesisch sprechenden Toiletten mit beheizten Sitzen. Die Frühstücksbuffets mit üppigen warmen und kalten Speisen (gelobt sei morgendlicher Algensalat), mit Obst und Suppen, mit Köchen, die auf Bestellung etwas frisch zubereiteten. Für „Langnasen“ gab‘s Besteck, Müsli, Brot und Wurst, nur Käse tauchte fast nie auf. Tee stand in gewärmten Kannen, auch die Einheimischen drängelten sich vor den Kaffeeautomaten. Abends wurde lokales oder Tsingtao-Bier getrunken aus der Brauerei, die auf die deutsche Kolonie zurückgeht, aber auch chinesischer Weißwein oder chinesischer, kirgisischer, georgischer Rotwein – mit und ohne Stalin-Porträt.
Die Sicht der KP China
Der politische Ertrag: Für mich ein positiver Schock. Das „Einmal sehen ist besser als hundert Mal hören“ hat sich mir noch nie so bestätigt wie auf dieser Reise – auch nicht einst bei denen mit dem FDJ-Reisebüro „Jugendtourist“ in sozialistische Länder.
Die Sicht der chinesischen Führung auf die Welt und auf Deutschland war der Hintergrund für die politischen Gespräche. Am ersten Tag in der Internationalen Abteilung des ZK der KP Chinas, am letzten Tag mit dem früheren Botschafter in der Bundesrepublik, Shi Mingde. In der ZK-Abteilung, die Kontakte zu 700 Parteien in 170 Ländern unterhält, darunter aus Deutschland neben der DKP zu SPD, „Die Linke“ und FDP, hieß es: Wir bieten allen Kooperation an, Gegensätze schließen freundschaftliche Beziehungen nicht aus, die Menschheit ist eine Schicksalsgemeinschaft. Uns in China geht es im Sinne des Marxismus um die umfassende Entwicklung der Menschen und wir sind stolz, 2020 laut UN rund 800 Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit zu haben. Wir helfen anderen auf der Welt aus der Armut, ohne wie die USA oder die EU unsere Ideologie aufzudrängen. Und wörtlich: „China ist in der Lage, Frieden zu stiften.“
Es soll Leute geben, die China für ein imperialistisches Land halten. Wie sie die Zahl von 800 Millionen Menschen einordnen, weiß ich nicht. Botschafter Shi Mingde erläuterte: 90 Prozent der Chinesen lebten 1978 noch in absoluter Armut. Deng Xiaoping habe damals gesagt: Armut ist nicht sozialistisch. Die Volksrepublik holte zunächst Kapital von Auslandschinesen aus Hongkong, Singapur und Taiwan ins Land und hat in den 40 Jahren nach 1978 sieben Millionen Menschen ins Ausland ziehen lassen, oft zum Studium. 70 Prozent von ihnen kehrten zurück – mit steigender Tendenz. Heute muss China jährlich an die elf Millionen Hochschulabsolventen mit Arbeitsplätzen versorgen. Das geht nur durch Innovation und qualitatives Wachstum. Shi: Ein starker Mittelstand schafft soziale Stabilität. Im ZK hieß es: Man habe Sorge, dass Friedrich Merz Deutschland zur „führenden“ Militärmacht Europas machen will. 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung? Das bedeutet negative Wirtschaftsentwicklung und Instabilität. Daran habe China kein Interesse.
Es hat ein anderes Wirtschaftsmodell. Mein wichtigster Eindruck: Gigantische finanzielle Mittel werden in die Hand genommen, um Infrastruktur und modernste Industrie zu schaffen, aber auch – und das ist der Unterschied zum Imperialismus – für Soziales. In der Rangliste der Länder nach Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, erläuterte Klaus Ludwig während einer Busfahrt, lag China laut Internationalem Währungsfonds 2024 mit rund 13.300 US-Dollar auf Rang 76 in der Welt (USA auf Rang sieben mit 86.600 Dollar, Deutschland auf Rang 18 mit 56.100 Dollar). Die größte Wirtschaftsleistung erzielten die USA mit 29,3 Billionen Dollar vor der EU mit 19,46 Billionen und China mit 18,75 Billionen.
Auf der Überholspur
Aber China holt nicht nur auf, es setzt zum Überholen an. Während der Reise tagte ein ZK-Plenum zum kommenden Fünfjahrplan. Danach war in der englischsprachigen Presse Chinas zu lesen: Das Land soll von der Werkstatt der Welt mit Massenproduktion und hohem Ressourcenverbrauch zum technologischen Vorreiter für Güter höchster Qualität werden. Das sozialpolitische Ziel: Bis 2035 soll die Zahl der Chinesen mit mittlerem Einkommen auf mehr als 800 Millionen Menschen verdoppelt werden. Das bedeutet, fast eine EU-Bevölkerung neu mit der Weltwirtschaft zu verbinden. Die Reise führt zu dem Schluss: Das ist realistisch und wird mit langem Atem verfolgt.
So geht Wohnungspolitik
Für mich das wichtigste politische Indiz: Die Bahnreisen führen durch ungezählte Neubausiedlungen für Millionen Menschen, insbesondere in den Metropolregionen um Peking, Shanghai und der größten an der Perlflussmündung mit Guangzhou (Kanton), Shenzhen, Hongkong und Macao. Die Städte sind neuerdings über eine 50 Kilometer lange Brücke miteinander verbunden. In Shanghai erzählt der chinesische Stadtführer Li: Ich bin in den 80er Jahren während der Ein-Kind-Politik mit meinen Eltern in einer Einzimmerwohnung aufgewachsen, kenne noch Gemeinschaftstoiletten – im Volksmund „Harmoniehallen“ genannt – und die langen Schlangen davor. 1990 hatten nach seinen Worten die Einwohner von Shanghai statistisch im Durchschnitt 1,7 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, heute sind es annähernd 16 Quadratmeter. In der Chronik der Stadt, die direkt der Zentralregierung unterstellt ist, steht: 1990 lebten im Großraum Shanghai 8,6 Millionen Menschen, heute rund 25 Millionen.
Die Neubauten mit Eigentumswohnungen werden zusammen mit sozialen und Versorgungseinrichtungen fertiggestellt, berichten alle chinesischen Reiseleiter. Arme Familien erhalten sie vom Staat, bei allen anderen geht es nach Einkommen. Bis hin zum freien Wohnungsmarkt. In Tianjin erzählt eine Deutsch-Dozentin, eine Freundin habe im Zentrum von Peking eine Wohnung mit rund 35 Quadratmetern für umgerechnet 800.000 Euro gekauft. China, das lange kaum soziale Absicherungen kannte, hat seit 2011 ein fünfgliedriges Sozialversicherungssystem für alle aufgebaut. Außerdem gibt es Kassen, um Kinder nach dem kostenlosen neunjährigen Schulbesuch auf weiterführende Schulen schicken zu können und zum Beispiel für die Unterstützung beim Wohnungserwerb.
In Shanghai, meint Li, benötigt man mindestens umgerechnet 1.000 Euro, um über den Monat zu kommen, am Stadtrand weniger als die Hälfte – auf dem Land einen Bruchteil. Gleichzeitig ist Shanghai, schreibt 2024 die Internetseite private-banking-magazin.de, für Reiche die drittteuerste Stadt der Welt nach Singapur, Hongkong und London. Sie hat mehr Wolkenkratzer als New York, 500 U-Bahn-Stationen und 1.300 Starbucks-Filialen. Aber: Westliche Marken werden zurückgedrängt: Chinesische Ketten, die hierzulande unbekannt sind, mit eleganten bis luxuriösen Filialen sind überall vertreten. Die Riesenreklametafeln westlicher Marken, von denen Chinareisende früher berichteten, sind weitgehend verschwunden. An den Hauptstraßen besteht der wichtigste Schmuck aus Nationalflaggen mit Hammer und Sichel an jedem Lichtmast. Beispiel „Chagee“: In den Städten überall zu sehen, aber auch im Tourismuszentrum im Weltnaturerbe-Resort „Himmelssee“ im Tienschan, 100 Kilometer südlich von Urumqi. Meine Annahme, dort gäbe es Kaffee, war falsch: Tee wird in schicken Maschinen gebrüht und mit viel Pappbechermüll überreicht. Die Kette wurde 2017 gegründet und hat heute Filialen von Malaysia bis zu den Philippinen in Südostasien und in den USA. Die EU lohnt sich nicht.
Soziales bestimmt den Takt
Das Streben nach sozialen Verbesserungen für alle bestimmt den Takt, die Entwicklungsgeschwindigkeit ist enorm. Das schließt zum Beispiel ein, das überall vorhandene 5-G-Netz etwa in Shenzhen für Lufttaxis und Lieferungen per Drohnen bis zu 300 Metern Höhe zu testen. 6 G wird vorbereitet. Es stellt Datenmengen zur Verfügung, mit denen solch Luftverkehr bis 1.000 Meter Höhe gesteuert und kontrolliert werden kann. Der Stau am Boden soll überflogen werden. Selbst im dünn besiedelten Xinjiang wird jetzt schon überall 4 G auf dem Handy angezeigt. Mit einer e-Simkarte für wenige Euro-Cent sind übrigens alle im chinesischen Internet blockierten Seiten erreichbar. Internet, schien mir, gilt als irgendwas von gestern.
Die Uiguren-Region, in der die KP Chinas nach Ansicht westlicher Medien und Politiker einen Genozid verübt, entwickelt sich schneller als alle anderen chinesischen Provinzen: Durch Ausbau der Infrastruktur (in drei Jahren soll Kashgar an das Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen sein), durch Tourismus, Wohnungsbau, Begrünung der Wüsten, durch Außenhandelssteigerungen von an die 20 Prozent pro Jahr (in der riesigen Grenzabfertigungsanlage zu Kasachstan wurden von Januar bis Oktober 8.000 Güterzüge Richtung Europa abgefertigt – neuer Rekord). In Kashgar waren laut Berichten von Reisenden noch vor 10 oder 15 Jahren Frauen verschleiert, hingen arbeitslose junge Männer in Cafés herum. Schleier und Arbeitslosigkeit sind verschwunden.
In Deutschland steht in „Bild“, „FAZ“ und „Spiegel“ regelmäßig noch die Lüge von Arbeitslagern für eine Million Menschen. Das Wiederkäuen ist Pflicht, denn der separatistische Weltkongress der Uiguren, der Massaker und Attentate inspirierte und die Region „Ostturkestan“ nennt, wird in München gepäppelt. Wie von 1945 bis heute die ukrainischen Nazikollaborateure. Das gehört zum Abgehängtwerden der Bundesrepublik dazu.



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