Neulich an der Aldi-Kasse

Kalt, kälter, Kapitalismus

Kolumne

Für ein Schulprojekt in der 7. Klasse fragte ich einmal meine Oma, Jahrgang 1931, was sie in der Zeit des Krieges als Kind am meisten vermisst habe. Ihre Antwort: „Ein Butterbrot. So dick bestrichen, dass man beim Reinbeißen die Zahnabdrücke sieht.“ Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass wir heutzutage wieder Hochrüstung und Kriegsvorbereitung erleben. Dass die Wehrpflicht reaktiviert wird und die Bundeswehr den Nahkampf in Berliner U-Bahn-Stationen probt. Und dass es eine Nachrichtenschlagzeile wert ist, zu vermelden: Butter ist zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder bezahlbar! Doch diverse Experten warnen bereits: bloß nicht daran gewöhnen, der nächste Preisanstieg lauert bereits am Horizont.

Folgerichtig sah eine noch durch die letzte Regierung eingesetzte „Monopolkommission“ in ihrem kürzlich veröffentlichten Bericht auch „deutliche Hinweise auf Wettbewerbsprobleme“ im Lebensmittelmarkt. „Überraschender“ Hintergrund: die Marktkonzentration im Einzelhandel hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich zugenommen: Rewe, Edeka, Aldi und Lidl kontrollieren 85 Prozent des Marktes. Bestätigt wird auch eine daraus folgende durchschnittliche Erhöhung der Gewinnmargen sowie das zeitliche Zusammenfallen von Konzentration und gestiegenen Preisen.

Kürzlich stand ich im Aldi hinter einem Mann mittleren Alters in der Kassenschlange, der bemüht war, seine Handvoll Waren auf dem Band mit einer Handvoll abgezähltem Kleingeld zu bezahlen. Am Ende fehlten 18 Cent. Er zählte erneut, während die Kassiererin bereits die Augen verdrehte und die ersten Leute hinter mir unruhig wurden. Während der Mann mit einem schmerzlich-resignierten Blick seine Einkäufe musterte, um zu entscheiden, was entbehrlich ist, gab ich ihm ein 20-Cent-Stück. Für einige Sekunden waren seine Augen, die der Kassiererin und weiterer Leute in der Schlange völlig entgeistert auf mich gerichtet.

1209 Kolumne Tatjana - Kalt, kälter, Kapitalismus - Arm und Reich, Monopolkapitalismus, Preissteigerungen, soziale Notlage, Vermögensverteilung, Wohnungsnot - Positionen
Tatjana Sambale

Wirklich schockiert an diesem Erlebnis hat mich nicht, dass Menschen in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt das Geld für ein paar Lebensmittel fehlt. Sondern wie vollkommen unvorstellbar es allen um mich herum in dieser Situation erschien, sich solidarisch zu verhalten. Der Mann nickte kurz, aber erstaunt und packte schnell seine Einkäufe ein, bevor ich es mir hätte anders überlegen können. Die Verkäuferin sagte: „So etwas hab ich ja noch nie erlebt!“ Und eine Frau in der Schlange fragte mich: „Machen Sie so was öfter?“

Es wird spürbar kälter in unserem Land, und das nicht nur im wortwörtlichen Sinne. Je mehr gegen angebliche Faulenzer, „Leistungsverweigerer“ und „Asylbetrüger“ gehetzt wird, desto schwerer fällt es, nicht zu vergessen, wo die wahren Schmarotzer sitzen. Der jüngst veröffentlichte „Verteilungsbericht“ der Hans-Böckler-Stiftung verweist darauf, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in der BRD nie größer war als heute. Immer mehr Menschen in immer prekäreren Beschäftigungsverhältnissen mit „flexibler“ gestalteten Arbeitszeiten und Arbeitsschutzgesetzen überlegen, wie oft sie sich in der Woche noch Butter und frisches Obst leisten können. Medial und politisch werden sie gegen Menschen in noch beschisseneren Lebenslagen ausgespielt, die sich im „Leistungsbezug“ zukünftig darauf einstellen müssen, Willkür und Gängelung völlig unterworfen zu werden. Bereits jetzt hat die Zahl der Wohnungslosen mit über einer halben Million einen Höchststand erreicht.

Wer Menschen vor die „Wahl“ stellt, in einem zutiefst angespannten Wohnungsmarkt aus angeblich zu großen Wohnungen auszuziehen, ohne dass es bezahlbare Alternativen gibt, oder sich den Differenzbetrag der Miete wortwörtlich vom Mund abzusparen, der erhebt soziale Grausamkeit und kapitalistische Kälte zum politischen Programm.

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"Kalt, kälter, Kapitalismus", UZ vom 28. November 2025



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